Völva - Wodans Seherinnen. Von keltischer Götterdämmerung 2
Prolog
Mit der Dämmerung waren die Sturmgeister erwacht. Die eisigen Böen fegten mit solcher Gewalt um die Langhäuser, dass das Stroh-Lehm-Geflecht zuweilen gefährlich bröckelte. Erste Regentropfen prasselten laut wie Hagelkörner auf die Reetdächer und verliehen dieser Szene den Hauch vom Ende aller Tage.
Lorn fehlte der Sinn, um seine Gedanken in solchen Horrorgeschichten zu verlieren. Missmutig umklammerte er sein zur Hälfte geleertes Trinkhorn, während er seinen Schwiegersohn beobachtete, der mit zittriger Stimme seine Kinder zu beruhigen versuchte. Acht Menschen hatten sich in dem winzigen Langhaus zusammengefunden. Lorns eigene Familie - seine Frau, die erwachsene Tochter, deren Ehemann und deren eigene Kinder - drängte sich auf den Schlaflagern zusammen. Weit genug vom zum Innenraum offenen Tierstall entfernt, in welchem die ersten Kühe in Panik ausbrechen wollten. Der Gestank nach Angst erfüllte den Raum. Er mischte sich mit dem Rauch des Torffeuers, das dem alten Fischer seit Stunden in den Augen brannte. Denn wer bei solchem Wetter den Rauchabzug öffnete, riskierte, sein halbes Dach bald fortfliegen zu sehen.
"Bleib ruhig, Kleines, die Sturmgeister sind nur ein wenig übermütig. Sie werden uns nichts tun, wir haben ihnen zu jedem Festtag Opfer gebracht!" Spöttisch blickte Lorn zu dem Mann seiner Tochter. Der hagere Dreiundzwanzigjährige strich seiner jüngsten Tochter unsicher über das blonde Haar, während sie sich an die Brust ihrer Mutter drückte. Die Angst in seiner Stimme war so deutlich zu hören, dass Lorn an der beruhigenden Wirkung seiner Worte zweifelte.
"Götter, helft mir, das ist ja nicht zum Aushalten!" Lorn nahm einen ausladenden Schluck Bier aus seinem Horn, sodass ihm der Gerstensaft in Rinnsalen vom struppigen Bart troff. Es war lachhaft! Dieser Junge war ein Schlappschwanz, ein winselnder Feigling aus dem Inland, der die Küste nur vom Hörensagen kannte und nur so lange große Töne spuckte, bis er der Urgewalt der Natur gegenübertreten musste. Wie er dieses ewige Gewinsel hasste!
"Die Sturmgeister sind nicht übermütig, das sind sie nie. Jedes Jahr kommen sie, um uns zu zeigen, wer die wahren Herren dieses Landes sind. Immer dann, wenn wir nahe dran sind, es zu vergessen."
Ein erschreckend nahes Krachen ließ alle Anwesenden zusammenfahren. Kurz darauf waren von draußen Stimmen zu hören, die in der Sturmnacht verhallten. Eine Stalltür musste aus ihrer Verankerung gerissen worden sein. Lorn bemerkte diesen Umstand mit gieriger Befriedigung. "Hört ihr? Sie hören deine Worte, Rhaldar! Sie wissen, dass du sie verspottet hast und fordern nun den gerechten Tribut! Willst du die Geister des Windes nicht um Vergebung bitten, bevor sie die See zur Hilfe rufen?"
[…]
Lorn hatte gerade sein Horn erneut an die Lippen gesetzt, als ihn ein Pochen an der Tür innehalten ließ. Knurrend ließ der Fischer sein Trinkgefäß sinken. Die Herren des nahen Viehhofs mussten nun die Kontrolle über die Sturmschäden verloren haben. Es war abzusehen gewesen.
"Was ist denn?"
[…]
Ein Kommentar lag ihm bereits auf der Zunge, als er die Tür öffnete. Die Böe, die ihm jedoch von draußen entgegenschlug, hatte er unterschätzt. Regentropfen, scharf wie Pfeilspitzen, prasselten in das Langhaus hinein. Lorn war binnen weniger Sekunden an Beinen und Oberkörper durchnässt wie ein vergessener Hund. Fluchend schlug er die Tür bis zu einem winzigen Spalt wieder zu, bevor er durch ihn hindurch blickte und versuchte, in der Schwärze der Nacht etwas zu erkennen.
"Wer ist denn da?"
Vor der Tür stand eine vermummte Gestalt. Ein dunkler Mantel war weit über das Gesicht gezogen, sodass der zuckende Lichtschein des Feuers den Anschein erweckte, es handele sich eher um einen Geist als um einen Menschen. Für einen Moment hielt Lorn bei diesem Gedanken die Luft an. Konnte es sein? Hatte diese Nacht noch andere Wesen geweckt, die auf der Suche nach ihm waren?