Sektion 3 I Hanseapolis - Schlangenfutter
Das forensische Institut befand sich in Hammerbrook, nördlich der HafenCity. Eine Ansammlung von flachen Gebäuden aus rotem Backstein, typisch für die Bauweise des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, klobig und schmucklos mit Rundbogenfenstern. Nach Anbruch der Nacht war es in den breiten Straßen, die den hermetisch abgeriegelten Komplex durchzogen, so still wie auf einem Friedhof, lediglich in den oberen Levels wurde rund um die Uhr gearbeitet. Die Räumlichkeiten des Forensischen Instituts waren komplett modernisiert und isoliert worden und boten den zahllosen Leichen, die täglich ihren Weg hierher fanden, übergangsweise ein trockenes Zuhause. Für die NIPs allerdings endete die Reise im angegliederten Fragmentierer, der die namenlosen Körper in ihre kleinsten Teile atomisierte.
Das Institut litt unter chronischem Geldmangel und das Equipment war alt und überholt. Bei dem Gedanken, dass Leichen hier teilweise noch aufgeschnitten wurden, musste Louann schwer schlucken. Die Mittel reichten nicht einmal für ein Analyzing Tube System aus, kurz ATS genannt.
Als Elias und Louann die riesige Autopsiehalle betraten, deren Decke, Boden und Wände mit selbstreinigenden OSC-Platten verkleidet waren, herrschte dort rege Geschäftigkeit. Rund 100 Leichen wurden hier zeitgleich obduziert und der Krach war trotz hoher Trennwände ohrenbetäubend. Gott sei dank funktionierte das Luftreinigungssystem, wie Louann erleichtert feststellte. Elias blickte sich suchend um, als eine maskierte Gestalt die Hand hob und beide zu sich heranwinkte. Louann erkannte hinter dem Gesichtsschutz Danny vom Tatort wieder.
"Morgen. Ihr kommt genau richtig. Wir sind gerade dabei, eure Sumpf-Leiche wieder zuzuschweißen. Kein schöner Anblick, aber ein äußerst interessanter!"
Unwillkürlich warf Louann einen Blick auf den zerfetzten Körper, der auf dem Tisch lag. Ihr wurde fast schwarz vor Augen.
"Wir haben das Opfer die halbe Nacht untersucht. Hatten nichts Besseres vor." Danny lachte, dabei streifte er Handschuhe und Maske ab. "Darf ich euch meinen Assistenten Tom vorstellen?" Ein großer, sehr schlanker Mann mit auffallend blauen Augen nickte freundlich. "Tom, das hier sind die Detectives Marino und Kosloff. Sie sind für diesen Schlamassel hier zuständig."
"Hi!" Übertrieben galant verbeugte sich Tom vor Louann und gab ihr einen imaginären Handkuss. Dabei zwinkerte er schelmisch. "Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen, Detective Marino! Ihre reizende Gegenwart bringt diese dunklen Hallen zum Strahlen."
Louann grinste entzückt.
Ein Leichenfledderer mit Hang zur Romantik!
Endlich mal ein Kollege mit Feingefühl und guten Umgangsformen. Sie linste unauffällig zu Elias hinüber, der aus seiner Ungeduld keinen Hehl machte.
"Rumturteln könnt ihr nach Dienstschluss, wir haben jetzt keine Zeit für so ’nen Mist! Erzählt uns lieber, was ihr herausgefunden habt. Wer ist das Opfer und was ist ihm zugestoßen?", fragte er barsch in die Runde.
Danny lächelte nur breit und begann zu berichten, während Louann innerlich den Kopf schüttelte. Außer ihr schien sich niemand an Elias’ derbem Charme zu stören. Sie schaltete ihr CS/X ein; ab jetzt würde jedes Wort aufgenommen und direkt zum Zen-tralserver geschickt werden.
"Also, das Opfer ist weiblich, zwischen 20 und 30 Jahre alt. 1,80 groß. Schlank, wog wahrscheinlich zwischen 57 und 62 Kilo. Schwer zu sagen, so wie sie zugerichtet ist. Sie ist seit ungefähr 40 Stunden tot. Todeszeitpunkt: Sonntagnachmittag zwischen 15.00 Uhr und 16.00 Uhr. Ohne ATS geht’s leider nicht genauer. Ihrer Knochenstruktur nach zu urteilen ist sie nicht eurasisch, sondern afrikanisch. Sie weist eine tiefe Stichwunde am Hals auf. Außerdem weist die Leiche 45 Bisswunden auf. Die meisten an den Armen und am Kopf. Und es fehlen acht ihrer Finger. Ebenfalls abgebissen. Als ob das nicht gereicht hätte, wurde ihr auch noch die Haut abgezogen. Zum Glück post mortem."