Schein oder Sein? 12 außergewöhnliche Erzählungen
Sakita
Angst hat viele Gesichter. Für Silvia hatte dieses Gesicht bernsteinfarbene Augen und war ihr von Anfang an suspekt. Denn Sakita hatte eine Art, lässig und gleichzeitig angespannt zu sein, die dem Gegenüber nichts Gutes verhieß.
Es begann an einem Sonntag im Mai. Der Tag war noch grau vom morgendlichen Regen, doch die Bäume blühten prachtvoll und ihre Blätter leuchteten intensiv in sattem Grün. Ein schwerer, süßlicher, fast schon orientalisch anmutender Duft von all den nassen Blüten erfüllte die Luft.
Arthur war zum Sport gegangen und brachte Sakita bei seiner Rückkehr am späten Vormittag einfach mit. Sie war nass und schien verängstigt. Arthur führte sie in die Küche. Silvia war von dem Gedanken, die Wohnung mit Sakita zu teilen, von Anfang an nicht angetan. Und das sagte sie auch sofort zu Arthur: „Du kannst doch so ein fremdes Wesen nicht einfach bei uns einquartieren. Ich mag sie nicht. Ich glaube, sie ist heimtückisch. Sie hat einen verschlagenen Blick.“ Aber Arthur lachte nur: „Ach hab dich nicht so! Das schaffen wir schon.“ Aufgebracht sagte Silvia: „Das ist doch gar nicht der Punkt. Du hättest mich vorher fragen müssen, anstatt selbstherrlich einfach zu bestimmen wie es zu laufen hat. Was, wenn ich das gar nicht schaffen will? Du stellst mich einfach vor vollendete Tatsachen.“ Doch Arthur ließ absolut keine Gegenargumente gelten und so stimmte Silvia schließlich widerwillig zu, dass Sakita eine Woche bei ihnen bleiben könne, lange genug um sich zu erholen. Die Woche verstrich, Sakita erholte sich – und blieb.
Wenn Sylvia abends vom Büro heimkam, lag Sakita oft dösend auf der Couch. Silvia ärgerte sich, aber wenn sie Arthur darauf ansprach, lachte er nur. Nach einem Monat kam es dann doch zu einer von Silvia erzwungenen Auseinandersetzung, der Arthur sich nicht länger entziehen konnte. Sie endete damit, dass Silvia schmollte und grollte, Arthur nicht mehr lachte und Sakita dennoch blieb.
Von nun an warf Silvia stets finstere Blicke auf Sakita und Arthur, die oft einträchtig auf dem Balkon saßen oder vergnügt miteinander spielten. Doch um Nahrung und das Saubermachen musste Silvia sich alleine kümmern. Damit gab Arthur sich nicht ab. Silvia empfand das alles als schrecklich ungerecht. Dazu kam noch, dass sie glaubte, in Sakitas bernsteinfarbenen Augen Spott und Verachtung zu lesen. Außerdem half es auch nicht, dass Sakita Silvia praktisch so gut wie gar nicht beachtete, dafür aber Arthur ständig umschmeichelte.
Silvia wurde zunehmend von dem an ihr nagenden Zorn geplagt. Ihre Abneigung
gegen Sakita wuchs und wuchs und wuchs und wurde schließlich zu einem schwelenden Hass. Mit nur noch mühsam unterdrückter Wut verfolgte sie Sakitas geschmeidige Bewegungen, ihre stumme, herablassend wirkende Zurückhaltung.
Und so beschloss Silvia, noch einen allerletzten Versuch zu unternehmen, mit Arthur vernünftig zu reden: „Sie stört unsere Beziehung. Merkst du das nicht? Ich bitte dich, bring sie weg!“ Doch Arthur wollte absolut nichts davon wissen: „Wo soll sie denn hin? Sie hat doch niemanden außer uns. Und wenn jemand ständig Unfrieden stiftet, dann bist du das.“ Ein großer Krach folgte, der mit einer hysterisch weinenden Silvia und einem wütenden, Türe knallenden und unschuldige Möbel tretenden Arthur endete. Sakita hatte sich um die Auseinandersetzung nicht gekümmert, obwohl sie sicherlich ahnte, dass sie der Anlass dafür war. Scheinbar gleichgültig legte sie sich auf den Balkon in die Sonne. Und da beschloss die sich hilflos und ohnmächtig fühlende Silvia zu handeln.