Rot ist die Rache
Leicht benommen schlängelte sich Tobi durch die angeheiterte Menschenmenge in der Berliner Kneipe Trinkgelage. Er hatte genug von dem politisierenden Gequatsche seiner Kommilitonen, wollte einfach an der frischen Luft eine Zigarette rauchen. Als Tobi die schwere Eingangstür aufschob, schlug ihm die erwartet kühle Septemberabendbrise entgegen. Und da stand sie – die alte hölzerne Parkbank direkt an der Spree. Zu Schulzeiten hatte der gebürtige Münsteraner bei seinen Besuchen in der Hauptstadt hier mit Freunden vorgeglüht, um bei Einbruch der Dunkelheit die letzten Drinks in ihrer Lieblingsbar zu kippen. Bereits bei den ersten Schritten merkte Tobi, dass er auch jetzt schon einen ordentlichen Pegel hatte. Wie das so war, wenn man mit einem Schlag aus einer warmen, verrauchten Kneipe in den sauerstoffreichen Außenbereich gelangte. Erwartungsfroh ließ er sich mittig auf die einladende Bank fallen, fischte eine zerknitterte Filterzigarettenpackung aus seiner Jackentasche und zündete sich die heiß ersehnte rote Gauloises an. Er nahm einen tiefen Zug, genoss den würzigen Geschmack und blies den noch nicht von seiner Lunge absorbierten Rauch in den Abendhimmel. Auch wenn die Musik aus dem Inneren des Trinkgelages gedämpft nach draußen klang, war es herrlich ruhig hier. Warum verdammt noch mal mussten seine Freunde immer das Studium mit in den Feierabend nehmen? Soziologie im zehnten Semester, das hieß Ethik hier, Menschenwürde da. Man konnte als Akademiker doch auch ausgiebig feiern, ohne die letzte Vorlesung des Tages beim Bier zu diskutieren. So zumindest interpretierte Tobi die Party-Geschichten seines älteren Bruders. Wenigstens noch einmal vor den anstehenden Wochen, die ihn wegen seiner Masterarbeit an den Schreibtisch fesseln würden, sollte ein bisschen Ablenkung erlaubt sein. Die anderen hatten gut reden. Beste Zwischennoten und zahlreiche Praktika ließen die fleißigen Bienchen deutlich besser dastehen. Wieso studierte er überhaupt? Und dann noch Soziologie. Der elterliche Wunsch eines Medizinstudiums kam aufgrund des Numerus clausus nicht infrage, okay. Aber die von ihm gewählte Notlösung ließ Tobi schon im Grundstudium zweifeln, ob er der klassisch verkopfte Geisteswissenschaftler war. Zeit für eine zweite Zigarette. Die noch rauchen und danach wieder rein. Hoffentlich waren Maren, Kristina und Benny inzwischen betrunken genug, um in einen entspannteren Modus umschalten zu können. Als Tobi mit dem rechten Daumen erneut das Rädchen des Feuerzeugs betätigte, spürte er eine Bewegung in seinem Rücken. Noch bevor er reagieren konnte, fuhr eine scharfe Klinge tief in seinen Hals. Und als aus Tobis Rachen ein leises Gurgeln erklang, schnitt ihm der heimtückische Mörder kurzerhand die Kehle durch. Lautes Gekreische und aus dem Lokal drängende Besucher beendeten abrupt das Gespräch der drei. Sofort standen auch Benny, Maren und Kristina auf und folgten der Herde nach draußen. Mindestens ein Dutzend Leute umringten die Parkbank. Mit unheilvoller Vorahnung wies Benny seine Kommilitoninnen an zurückzubleiben und bahnte sich den Weg durch die Schaulustigen. Als er sein Ziel erreicht und freies Sichtfeld hatte, wurde die Vermutung zur Wahrheit. Der tote junge Mann vor ihm war Tobi, dessen Kopf nach hinten über der Lehne hing. Aus einer großen Halswunde lief Blut, sehr viel Blut. Entsetzt wandte Benny seinen Blick abwärts. Das weiße Hemd seines Kumpels war aufgeknöpft. Auf dem entblößten Oberkörper des Opfers war überdimensional groß und dank der sauberen Schnitte deutlich erkennbar die Zahl Zwei eingeritzt.