Randnotizen - Es ist nie, wie man denkt. Vier Erzählungen über Vorurteile, Toleranz und Grenzen in unserer Gesellschaft
Einleitung
Ein Mann sitzt auf seinem Schlafsack am Boden. Vor ihm ein Pappbecher. Im Hintergrund der Unterführung in Großbuchstaben der Schriftzug KULTURPLATZ – ein Bild, das per se schon Fragen stellt. Und doch dauerte es einige Zeit, bis ich es auf meinem morgendlichen Weg ins Büro überhaupt wahrnahm. Es als kurze Notiz auf einem Kassenbon aus dem Geldbeutel festhielt. Mit krakeliger Schrift am Rande: Wie viel Kultur steckt in uns, wenn wir an einem Mann auf seinem Schlafsack stupide vorbeirennen? So, als wenn wir ihn nicht sehen würden. Wer ist er? Die Szene brannte sich in meinen Kopf. Der Mann. Hat er Familie? Ich begann ihn jeden Morgen im Vorbeigehen – aus sicherer Entfernung – für einen kurzen Moment zu beobachten, immer einen anderen Aspekt an ihm wahrzunehmen. Seinen müden Augenaufschlag. Vergilbte Finger, die in Zeitlupe versuchten, steif eine Zigarette zu drehen. Ich versuchte Worte für das Gesehene in meinen Notizen zu finden und scheiterte auf meinen Zetteln, weil ich nichts von dem verstand, was ich täglich auf meinem Weg ins Büro sah. Was ist Obdachlosigkeit? Aus dem Bühnenbild unserer Gesellschaft – dem KULTURPLATZ in der Unterführung – schälte sich mehr und mehr ein Mensch, den ich in meinen Aufzeichnungen versuchte zu verstehen. Warum sitzt ein Mensch auf dem kalten Boden? In einer Unterführung? Keiner wird obdachlos geboren. Wählt ein Mensch wirklich die Obdachlosigkeit? Oder bleibt ihm letztlich keine Wahl?
Eines Tages hörte ich ihn auf Polnisch fluchen. Die grauen Krücken neben ihm auf dem Boden. Er hatte getrunken. Ich fasste mir Mut und sprach ihn trotzdem auf Polnisch an. Keiner der Passanten verstand mich, doch er lächelte. Ab diesem Punkt grüßten wir uns jeden Morgen in der Unterführung. Ich überwand die Angst, wie vor einem bissigen Hund. Unterhielten uns kurz, und so erfuhr ich einiges, was ich nicht sah. Nicht wusste. Ich begann seine mir erzählte Geschichte aus den täglichen Notizen niederzuschreiben. Wurde von Tag zu Tag mutiger und unsere Gespräche intensiver. Mehrschichtiger. Im Schreiben, allein mit den Fragen, wurde ich von meinen Gedanken gezwungen, mir meine Vorurteile einzugestehen. Der Mann auf dem Boden begann durch das Schreiben mit mir etwas zu tun zu haben. Versuchte mich in ihn hineinzuversetzen – selbst auf dem Boden zu sitzen – und zeitgleich mich als einen an mir vorbeilaufenden Passanten zu hinterfragen. Ein Experiment.
Eigentlich hatte ich nie vor ein Buch wie das nun vorliegende zu schreiben, doch die Begegnungen mit dem Obdachlosen in der Unterführung rüttelten mich und schärften den Blick auf meine Umgebung. Auf meine eigenen Meinungen. Ich klagte mich an: Wie schnell ich über Menschen Urteile spreche, ohne ihre Lebensgeschichten zu kennen? Ohne wirklich etwas zu wissen? Ich begann zu zuhören. Zu recherchieren. Und plötzlich entstand aus meinen Textfragmenten ein Konzept. Für dieses Buch. Vier in sich abgeschlossene Erzählungen zu den Themen: Obdachlosigkeit, Zölibat, Pfandsammler sowie Straßenstrich. Doch wie schreiben, um diesen Themen – den Menschen mit ihren Lebensrealitäten dahinter – gerecht zu werden? Es ging mir nicht darum, wie ein Sensationsreporter, persönliche Schicksale zu zerpflücken, nur damit der Leser ein schlechtes Gewissen entwickelt. Nein, das war nicht mein Anspruch. Absicht dieses Buches ist es, ein Dahinter des ersten Eindruckes aufzuzeigen. Wissen wir beispielsweise wirklich, was es für einen katholischen Pfarrer bedeutet, im Geheimen zu lieben? Wie es sich für seine Freundin anfühlen muss, nicht öffentlich an seiner Seite leben zu dürfen? Sie sich jedes Wort zu ihm vor anderen überlegen muss? Was es bedeutet, wenn sich ie eigene Ambivalenz zwischen Beruf und Liebe schiebt, die doch eigentlich das Leben bejahen soll? „Das haben doch beide vorher gewusst!“, „Doppelmoral“ oder „Typisch katholische Kirche!“, ist mir als Antwort zu wenig.