Monokultur. Alternative für Andi
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Ende August, der Sommer war mal wieder lauwarm und verregnet gewesen, trat Andi Locher aus dem heruntergekommenen Etagenhaus, in dem er bei einer mafiösen Agentur namens Schröder Consult zu einem Wucherpreis ein Einzimmerappartement mietete, in die grau verhangene Gehwegtristesse von Düsseldorf-Flingern. Er hätte eigentlich seine Freundin treffen sollen – sie waren um neun in einem Café verabredet, und es war schon Viertel nach –, aber anstatt sich zu beeilen und in Richtung Birkenstraße zu gehen, schlurfte er nur matten Schrittes über die Wehrhahnbrücke und stellte sich unentschlossen an den Tresen einer Trinkhalle. Er bestellte ein Bier und dachte trinkend, dass er ihr theoretisch noch schnell eine SMS schicken könnte – eine kleine Notlüge würde ihm schon einfallen. Doch dann schaltete er einfach sein Handy ab.
Seine Beziehung zu Melanie war an Oberflächlichkeit nie zu überbieten gewesen. Sie hatte mit einem One-Night-Stand an Silvester angefangen, war dann in eine Art Langzeittest übergegangen und hatte sich schließlich irgendwo dazwischen zerfasert. Andi hätte gerne weiterhin einfach hier und da einen weggesteckt, Melanie dagegen wollte gerne etwas »Ernsteres«, wie sie es nannte. Sie hatten sich nie einigen, aber auch nie endgültig trennen können, so dass eben dieses komische Pseudo-Beziehungsding dabei rausgekommen war. Leicht schaudernd leerte er sein Bier und überflog die Bild-Zeitung. »Unerhört: Frau goss Mann Atom in den Kaffee!«
Frau Gassmann – die Schlagzeile ließ ihn an seine Nachbarin aus dem Nebenhaus denken. Andi fragte sich, ob es wohl ein besonders schlechtes Zeichen war, dass er ausgerechnet an Frau Gassmann dachte, während Melanie auf ihn wartete, aber irgendwie passte der Gedanke ins Bild. Frau Gassmann hatte ihn vor wenigen Tagen auf Facebook eingeladen, ihr Freund zu werden. Er hatte reflexartig akzeptiert, und nun wurde er, ob er es wollte oder nicht, über allerhand uninteressanten Plunder auf dem Laufenden gehalten, beispielsweise die Großkundgebung irgendeiner politischen Bewegung oder sowas in der Art, deren Gründer offenbar Ulf Gassmann war. Andi fiel auf, dass er zwar den Vornamen von Frau Gassmanns Mann kannte, ihren aber nicht. Auf Facebook nannte sie sich »Giga-Byte«, was Andis Fantasie allerdings deutlich überstieg. Gisela vielleicht, das würde passen, dachte er. Ulf und Gisela Gassmann.
Er gab die Flasche zurück, kaufte noch zwei Pilsener für zu Hause und ging schließlich wieder die Hindenburgstraße hinunter. Als er das Treppenhaus betrat, überkam ihn noch einmal kurz so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Er entschied sich endgültig, Melanie sitzen zu lassen. Dringlicher schien ihm, am nächsten Morgen halbwegs ausgeschlafen auf der Arbeit zu erscheinen, denn seine Chefin war weitaus weniger nachsichtig als Melanie. Seine Stelle bei der Übersetzungsagentur Dressler Sprachendienst war mit immerhin tausendvierhundert Euro im Monat bezahlt, das war der absolute Toptarif, seit er nach dem Abschluss seines Romanistik-Studiums auf der Suche nach Jobs in den abwegigsten Branchen herumkrebste. Nach einer quälend langen Zeit als Praktikant war Andi vor Kurzem zum Trainee befördert worden. Dies brachte ihm zwar nach knapp einjähriger Durststrecke endlich wieder ein Gehalt ein, von dem er gerade so leben konnte, allerdings änderte es nichts an der Tatsache, dass er als Arbeitnehmer nicht voll anerkannt wurde und laut Vertrag kaum Rechte hatte.
Träge stieg er die fünf Etagen zu seiner Wohnung hoch, sperrte die Tür auf und ging direkt auf den Balkon, um noch ein bisschen auf die Bahngleise zu schauen. Rachid, sein Flurnachbar, stand noch am Grill. Er grüßte wie immer sehr freundlich und reichte ihm auf einem Plastikteller zwei Köftespieße über das Balkongeländer.
»Suche Köfte, biete Bier«, sagte Andi nur.
»Nehm ich«, sagte Rachid.