Männerspielsachen
Racer on the Rocks
Mir fallen auf Anhieb nur zwei Situationen ein, in denen mir Tempo nichts bedeutet: Beim Essen und beim Sex. Sonst will ich eigentlich immer erster sein. Als es mir seinerzeit bei den Einführungsrunden vor dem freien Blasen auf der Rennstrecke von Spa Francochamps hinter dem Pacecar nicht schnell genug ging, holte ich die analoge Sucherkamera heraus und knipste seelenruhig den vor mir fahrenden Instruktor. Als ich das HiFi-System im BMW M5 testen sollte, hatte ich nichts Besseres zu tun, als die Gelegenheit zu nutzen, um mit 320 km/h in der Kurve auf einer zweispurigen Autobahn die Grenzen des Fahrwerks auszuloten. Dabei freute ich mich beinahe wie ein kleines Kind auf dem Schaukelpferd, als Bodenwellen dazu kamen und den 507-PS-Boliden in heftige Bewegung versetzten. Endlich spürte ich das Auto. Dabei hatte ich mir noch keine 24 Stunden vorher unter dem Eindruck von Formel-1-Pilot Robert Kubica, der mit 280 Sachen beim Grand Prix von Kanada aus der Kurve flog, geschworen: 'Auf öffentlichen Straßen nächstens nie mehr über 200.' Unnötig zu sagen, dass ich das erste Mal, als ich mit Skiern durch eine Half-pipe schoss, eine Videokamera in der Hand hielt. Weitere Grenzerfahrungen scheiterten bisher lediglich am nötigen Kleingeld, der Zeit oder an beidem.
So gammelten die beiden Gutscheine für eine Taxifahrt im Viererbob seit zwei Wintern in der Schublade vor sich hin, weil die Termine zu ungünstig lagen, um mich im Eiskanal bei 3 G (dem dreifachen der Erdbeschleunigung) einer neuen Herausforderung zu stellen.
Doch dann kam jene Party, auf der ein gewisser Felix Poletti aus Zürich, der sich im Nachhinein als Skeleton-Legende entpuppte, mich zu einer Fahrt mit dem schnellen Schlitten animierte.
Schon eine Woche später stehen meine Erlebnisgutscheine auf Ebay zum Verkauf.
Und ich liege auf dem Bauch: Unter mir ein seltsames Vehikel, das ich noch tags zuvor nur aus Google kannte. Ich habe ein ziemlich flaues Gefühl. Aus der Frosch-Perspektive wirkt der Eiskanal wie ein weit aufgerissener, fahler Schlund, der einen mitsamt fahrbarem Untersatz zu verschlingen droht. Angespannt konzentriere mich nur auf den einen Moment, der im Verlauf weniger Sekunden nicht nur mein Verständnis von Physik und Kontrolle, sondern auch meinen ganzen Kreislauf mächtig auf den Kopf stellen würde.
Angst spüre ich ('Gefahr ist mein zweiter Vorname') keine, aber dafür umso mehr ein Gemisch aus Demut und Respekt. Im Eiskanal ist man ausgeliefert, ein Spielball der Elemente. Mir geht durch den Kopf: 'Du brauchst den Skeleton, aber der Skeleton braucht dich nicht.' Wenn man sich bei rund 90 Sachen, die ein anständiger Fahrer im Olympia-Eiskanal von Innsbruck erreichen sollte (ich wollte selbstredend die 100 knacken) nicht mehr halten kann, wirft er einen ab und rast allein ins Ziel. Dennoch läuft keinesfalls alles vollautomatisch ab. Immerhin ist Skeleton eine olympische Disziplin und Tanja Morel aus dem schweizerischen Nationalkader, die bei dieser Schnupperveranstaltung des Zürcher Bobclubs und Skeleton Club Limmattal außerhalb der Wertung mitfuhr, der beste Beweis, dass es gewisse Unterschiede gibt.
Tanja startet als 10. und setzt mit 105,81 km/h und einer Zeit von 56,685 respektive 57,757 auf der 1.270 Meter langen Herrenabfahrt die Bestmarke des Tages - eines endlos langen Tages, der noch Szenen wie aus 'Cool Runnings' bringen würde. Als nachgemeldeter deutscher Gast trage ich die Nummer 44 und bin damit der vorletzte Starter. Das ist schlecht für sportliche Ambitionen, denn auf olympischen Wett-kämpfen - schnappe ich während des Wartens auf - braucht man sich ab Startplatz zehn keine Hoffnungen mehr auf das Podium zu machen. […]