Hexenherz. Eisiger Zorn
Kapitel 1
„Mist.“
Und dann noch ein paar Mal: „Mist, Mist, Mist.“
Das waren die Worte, mit denen mich meine Mutter begrüßte, kaum dass ich geboren worden war.
„Mist.“
„Ein Mädchen“, musste sie nicht extra dazu sagen, das war auch so jedem der Anwesenden klar: Meiner Muttersmutter, die ich später zärtlich „Großmutter Mamu“ nannte, ihrem Mann Mark, meinem Vater und dem Geburtshelfer.
Kurz darauf erschien der Staatsdiener, der meine Geburt zur Kenntnis nahm und meine Existenz gewissenhaft festhielt. Ein Mädchen. Für den Staat ein Geschenk reinster Güte, für meine sonst so beherrschte Mutter ein Grund, hemmungslos loszuweinen. Der Staatsdiener schüttelte verwundert den Kopf. Selbst mit zwei Söhnen bestraft, kamen ihm wohl unfeine Gedanken, aber die behielt er wohlweislich für sich.
Papa lächelte jedes Mal, wenn er mir die Geschichte erzählte. Er schaute mich an, wuschelte mir die Haare und erzählte vom Tag meiner Geburt. Und am Ende lachte er und ich lachte mit.
Nun sollte man meinen, dass die Geburt einer Tochter etwas Schönes ist, eine tolle Leistung, vielleicht sogar „ein lobenswerter Beitrag zum Erhalt unserer ruhmreichen Gesellschaft“ – so sah das zumindest die Goldene Frau. Und die musste es ja wissen, nicht wahr?
Meine Mutter kümmerte es allerdings wenig, was die Goldene Frau sagte oder die Silberne oder die Bronzene oder alle anderen, die in der politischen Hackordnung unseres wunderbaren Landes danach kamen. Sie hatte einfach nur einen Sohn gewollt.
Der kam vier Jahre später und was soll ich sagen? Den stillte meine Mutter sogar vier Monate lang, verschwendete also volle zwei Monate länger als nötig ihre Zeit an einen Jungen! In unserer Kleinstadt war man schon an die Exzentrik meiner Mutter gewöhnt, aber das setzte dem Ganzen doch die Krone auf. Von da an galt sie selbst unter den tolerantesten und friedlichsten Frauen als Außenseiterin und entsprechend durfte sich mein Brüderchen einige Gehässigkeiten gefallen lassen. Wir, seine Familie, glichen das aus, verwöhnten ihn nach Strich und Faden und nichts liebte ich so sehr, wie sein kleines Kugelbäuchlein zu kitzeln und ihn so zum Lachen zu bringen!
Danach wurde meine Mutter nicht mehr schwanger. Ich vermute, da gab es reichlich Druck von oben. Eine Schwangerschaft ist ja auch immer so eine Sache: Während der langen Monate benötigt eine Frau ihre gesamte Magie für das heranwachsende Leben und ist dann zu nichts anderem zu gebrauchen. Die Sache lohnt sich, wenn denn ein Mädchen dabei herauskommt. Ist es ein Junge, sehen die Staatsoberen nur eine Verschwendung magischer Zeit. Klar, manche Frauen sind so schlecht, dass es darauf nicht wirklich ankommt. Wie die Heitmeyer zum Beispiel, die kann ja nicht mal den einfachsten Windhauch fabrizieren! Bei einer so talentierten Frau wie meiner Mutter fallen neun Monate jedoch wirklich schwer ins Gewicht. Die taten in der Hauptstadt fast so, als würde die Welt untergehen, wenn Mama mal eine Weile nicht mitzaubern konnte!
So wuchs ich also auf – geliebt und umgeben von meiner Muttersmutter, ihrem Mann, meinem Vater und meinem Brüderchen. Mama wohnte natürlich fast das ganze Jahr über in der Hauptstadt, wo sie arbeitete. Sie fehlte mir unendlich, dennoch war meine Kindheit glücklich. Bis zu dem Tag, an dem die Magie in mir erwachte.
Amelie, meine beste Freundin, ging mir schon seit ihrem zehnten Lebensjahr damit auf den Zeiger: „Ohhh, ich hoffe, ich bekomme was mit Tieren! Oder Lügenleserin wäre nicht schlecht. Dann könnte ich für die Goldene Garde arbeiten! Oder, oder, oder … Ob ich doch lieber Ärztin werde?“
„Aaaaamelie“, seufzte ich damals schon genervt. „Die Menschheit hat tausende von Jahren gebraucht, um zu kapieren, dass jede Frau – na ja, fast jede – zaubern kann. Da wirst du ja wohl noch ein paar Jahre warten können, oder?“
Konnte sie nicht, musste sie aber.