Erich. Oder: Der Tag, den Angela M. nie vergessen wird
5. Kapitel
„Hast du Angst vor gelben Punkten?“
Der Mann lässt enttäuscht die Arme sinken, als er dem Taxi hinterher sieht. Er weiß aus Erfahrung, dass hier nur alle halbe Stunde eines vorbeikommt, bestenfalls! Und er hat es eilig. Wenn er zu spät kommt, verpasst er die Chance seines Lebens! Und da sieht er den Türken auf dem Fahrrad angerast kommen. Ist es ein Türke? Vielleicht auch ein Armenier. Oder ein Syrer. Egal: Der Mann heizt dicht an ihm vorbei, ein paar Meter weiter springt er vom fahrenden Rad, landet auf dem Bauch, rappelt sich auf und rennt davon. Und da kommen zwei weitere Türken – sind es Türken? – um die Ecke gelaufen. Sie bleiben kurz stehen, als sie das Fahrrad auf dem Boden liegen sehen, dann entdecken sie den fliehenden Mann und nehmen die Verfolgung wieder auf. Ob er gut damit beraten ist, sich in einen Supermarkt zu flüchten – wer weiß? Auf jeden Fall liegt das Fahrrad vor dem Mann, der es eilig hat, und das Vorderrad dreht sich noch. Jetzt hab ich doch noch eine Chance, denkt er, und hebt das Fahrrad auf.
Der Vorderreifen hat eine leichte Acht, aber das Fahrrad fährt. Er ist lange nicht mehr Rad gefahren, es fühlt sich ganz gut an, zumindest zu Beginn. Dann wird es anstrengend, weil die Schaltung hakt und nur im siebenten Gang fährt. Er muss heftig in die Pedale treten. Das macht er, denn an der übernächsten Ecke wird er an seiner Stammkneipe vorbeikommen, wo jetzt vermutlich die ersten Kumpel auf den Stühlen an der Hauswand sitzen und dem Straßenverkehr zusehen, und da will er natürlich einen guten Eindruck machen. Mit wehendem sitzen schon drei, die Bierflaschen in der Hand. Ungläubig sehen sie ihn auf sich zukommen.
„Rudi, was machst du? Was soll der Quatsch?“, ruft einer. Da ist Rudi schon vorbei, hat nur kurz die Hand zum Gruß gehoben. Aber er hätte sowieso nicht halten können bei dem Tempo, da die Handbremse nicht funktioniert.
Dann hört er erstmal auf zu strampeln und lässt das Fahrrad ausrollen. Sein Herz klopft heftig, es rast geradezu. Als er das merkt, bricht ihm der kalte Schweiß aus, die Cardio-Phobie meldet sich. Er hatte sie schon länger nicht mehr, aber nun ist sie wieder da: die Angst, das Herz könnte aufhören zu schlagen. Er hält an und steigt ganz schnell ab.
Rudi wischt mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Mist, denkt er, so ein Mist! Wie soll ich es denn jetzt noch rechtzeitig schaffen? Aber erstmal muss er sein rasendes Herz beruhigen. Er hält sich am Laternenpfahl fest und atmet lang und tief, so wie sein Therapeut es ihm beigebracht hat. Das ist schwerer als man denkt, wenn das Herz rast. Aber soll es ruhig rasen, denkt er, besser als wenn es stehen bleibt.
Dr. Breihold hat Rudi viele gute Verhaltensregeln beigebracht für den Fall, dass eine seiner Phobien ihn quält. Rudis Lieblingsregel: Denken Sie, Sie sind jemand anders, jemand, der über den Dingen steht, den nichts aus der Fassung bringen kann.
Jemand anders sein – das gefällt Rudi! Er hat schon als Junge keine Mühe gehabt, sich mit den Helden seiner Comics zu identifizieren. Schwieriger war es da, wieder herauszufinden aus der Rolle, sodass ihm schon während der letzten Schuljahre klar war, dass es nur einen sinnvollen Beruf für ihn geben kann: Schauspieler. Das wäre die ideale Möglichkeit, das aufregende Leben eines berühmten Stars zu führen und sich gleichzeitig möglichst weit von sich selbst zu entfernen.
Deshalb ist auch der heutige Casting-Termin wichtig: RTL sucht für eine TV-Produktion Komparsen. Ein Film über Wilhelm Bartelmann, ein Lübecker Korbflechter, der Ende des 19. Jahrhunderts den Strandkorn erfand und damit das deutsche Badewesen revolutionierte. Für die Strandszenen werden Komparsen in großer Zahl gesucht. Die Dreharbeiten sollen drei Wochen dauern, pro Tag gibt’s 50 Euro. Außerdem stellt die Produktionsgesellschaft die zeitgemäße Badebekleidung, die man hinterher behalten darf.