Der Mann mit den neunhundertneunundneunzig Gesichtern
IN GEDENKEN AN MICHAEL RUDOLF
Weisser Stein
im
Großer Dank für immense Hilfe an: Pia Büttner, Thomas Hintner, Marit Hofmann, Peter Köhler, Horst Martin, Christof Meueler, Mark Obert, Michael Ringel, Carola Rönneburg, Ina Rudolf, Michael Sailer, Kay Sokolowsky, Dieter Steinmann, Norbert Thomma
Wer war Holger Sudau? Diese sagenhafte Gestalt, die immer wieder in der Fachwelt an den unmöglichsten Stellen zitiert wird oder als unbestechliche Referenzgröße auftaucht? Nun, zunächst einmal ein wüster Säufer, ein Blender und dreister Scharlatan, dessen Leitspruch »Zum Leben zuviel, zum Sterben zuwenig« lautete, der den Staat DDR, eine waschechte, menschenverachtende Diktatur immerhin, vollrohr ignorierte, ein begnadeter Dichter, ein unbeirrbarer Mahner und Welterklärer, riesengroßer Schlauberger und ein unermüdlicher Minderer des Unglücks, der aus Wissenschaft und Kunst kaum wegzudenken wäre, an den sich aber nicht mal Freunde oder direkt Betroffene erinnern, ein Mann mit neunhundertneunundneunzig Gesichtern und doch selbst seinen engsten Vertrauten, seinen Eltern sogar ein gänzlich Unbekannter. Sonst war bisher kaum mehr bekannt. Holger Sudau – ein Phantom?
Michael Rudolf
Michl Rudolf, alter Seebär!
Holger Sudaus Lebenslauf – Michael Rudolf
Micha – Pia Büttner
Zwei Finger für ein Halleluja – Michael Ringel
Ein städtebauliches Desaster für Greiz – Michael Rudolf
In Gedanken an Michael Rudolf – Reminiszenzen aus Greiz – Gotthard Brandler
Aus den Kolonien (3) – Lebenslauf eines Ureinwohners – Michael Rudolf
Aus den Kolonien (4) – Greiz – Michael Rudolf
Aus der Frühgeschichte des Verlags Weisser Stein – Gerhard Henschel
Nachdenken! – Michael Rudolf
Ein unangenehmes Wochenende – Michael Rudolf
Problemfront – Michael Rudolf
Wozu? – Michael Rudolf
Michi – nimm dies! – F. W. Bernstein
Restless Legs – Michael Rudolf
Wie Michael Rudolf einmal vorm falschen Utopia warnte – Jürgen Brömmer
Mit den Augen einer Frau – Bericht von der Triennale in Greiz/Thüringen 1994 – Fanny Müller
Wirklich sehr komisch – Peter Köhler
Reichlich Zumutungen und ab und zu etwas zu lachen – Mit Michael Rudolf auf kurzen Wegen durch die Welt – Dieter Steinmann
Wie Michael Rudolf einmal mein erstes Buch verlegte – Susanne Fischer
Diederichsen und Tomayer – Michael Rudolf
Der Halbkurze – Michael Rudolf
Bierselig – Edo Reents
In Lohn und flüssig Brot – Michael Rudolf
Der moderne Hausmann – Michael Rudolf
Zwei einsame Zeugen – Thomas Gsella
Wie ich vom rechten Glauben abfiel – Michael Rudolf
Der Barbier von Bebra – Wiglaf Droste/Gerhard Henschel
Androgyne Alkoholiker – Michael Rudolf
Mitteilungen über Michl – Jürgen Roth
Unergründliche Gründe – Marit Hofmann
Schwammige Suppe – Michael Rudolf
Der Segen des Wechselstroms – Michael Rudolf
Im Krug zum grünen Kranze (6) – Michael Rudolf
Im Krug zum grünen Kranze (10) – Michael Rudolf
Egner’s Getränkeagentur – Michael Rudolf
Mythos Bratkartoffel – Michael Rudolf
Die Bratkartoffelaffäre – Dieter Grönling
Presseerklärung vom Bischofferoder Bratkartoffelgipfel oder: Tumultartige Szenen und ein Speckseminar – Michael Rudolf
Aberration von der Wahrheit, Irritation der Leser oder: Bratkartoffelgipfelgegendarstellung – Jürgen Roth
Von den Vorzügen gestrickter Pfannenschoner – Michael Rudolf
Späte Bescherung – Michael Rudolf
Im Krug zum grünen Kranze (34) – Michael Rudolf
Wie das mit den Mädels immer schiefging – Michael Rudolf
Das Fest der Rache – Holger Sudau
Unangenehme Erinnerungen – Michael Rudolf
Im Krug zum grünen Kranze (42) – Michael Rudolf
Sieben – Michael Rudolf
Frau Schröter – Michael Rudolf
Mit sozialistischen Grüßen – Michael Rudolf
Vorsätze – Michael Rudolf
Den Freund mitlesen – Frank Schäfer
Gegendarstellung – Thomas Roth
Kolumne mit ein paar Dochs zuviel – Michael Rudolf
Wer? Der? – Mark Obert
Die neue Wehmütigkeit – Michael Rudolf
Profanes Heilsversprechen – Jürgen Lentes
Wasser, Hopfen, Malz – Michael Rudolf
Irrtümlich verschwunden – Alexander Mayer/Bert Sander
Antipop – Michael Rudolf
Franken-Grunge – Martin Büsser
Päpste, Barone und Anwälte – Lissy Schmidt
Mutters Geburtstag – Michael Rudolf
Prahlhansprosa – Michael Rudolf
Apokalyptische Niederschläge, Häuser voller Kartoffeln und geistige Getränke – Michael Rudolf
Das Bruderkriegen – Michael Rudolf
Ein Autor ist ein Kunde ist ein Amazon-Rezensent – Michael Rudolf
Piff und Paff und Rums! – Michael Rudolf
Schreib nein – Christof Meueler
Explodierender Schaum – Michael Rudolf
Goethe-Tours – Michael Rudolf
Wie Michael Rudolf beinahe einmal einen Riesendeal mit dem Orient an den Haken kriegte und damit mindestens den Weltfrieden hätte retten können – Dieter Steinmann
Umwuchteln und Düdelüten im Forst – Michael Rudolf
Darßer Kahlkopfmagie – Oliver Maria Schmitt
Schlitzaugen und Schlitzohren – Michael Rudolf
Gut gegeben (Kunsterlebnis) – Michael Rudolf
Rockkonzert – Jürgen Roth
Gespräche über Robinien. Differenzen betreffend Elstern – Rayk Wieland
Frühlingsfest am Bach – Michael Rudolf
Der Milchbrätling – Michael Rudolf
Schmecken darf es nie – Michael Rudolf
Kein schöner Land – Glashütter auf großer Fahrt – Michael Rudolf
Sudau lebt noch – Michael Tetzlaff
Noise-Geetarh – Michael Rudolf
Das Leben ein Streich – Michael Ringel
Die Weltformel – Peter Köhler
Eisenbahnmeckerei, quo vadis? – Michael Rudolf
Ballonien – Michael Rudolf
Der ausgebildete Kranke – Michael Rudolf
Über die Verlagsweintrinker – Antwort von Michael Rudolf auf eine Anfrage von Aenne Glienke, ob er sich für einen Band über Bier in der Reihe »50 Klassiker« des Gerstenberg Verlags erwärmen könnte
Kräf-tick – Michael Rudolf
Arno Schmidt revisited – Michael Rudolf
Was bedeutet Ihnen Arno Schmidt? – Gerhard Henschel
Pictures of an Exhibitionist – Holger Sudau
Der See – Michael Rudolf
Fluch über die Fichte – Michael Rudolf
Thüringer des Monats – Bier, Gitarren und der Rudolf – Thomas Behlert
Valentin Sailer – Michael Rudolf
Blick über den Fluß – Michael Sailer
Warum nur? – Michael Rudolf
Mach mehr aus deinem Winterleben oder: Protokoll einer Übernachtung im Iglu – Michael Rudolf
Die Gasthausplage – Michael Rudolf
Ein Abend in Aufseß – Jürgen Roth
Kurze Betrachtung zum Verhältnis Verleger – Autor oder: »Ich kotze schon seit Jahren nicht mehr« – Roland Tauber
La recherche de la bière perdue – Michael Rudolf
Bierbeschaffung für Michi – Ralf Sotscheck
Drei irische Biere und das Mädchen auf Pilzen – Michael Ringel
Ärger machen, wo es geht – Michael Rudolf
Bierbilder oder: Wie es wieder mal für etwas sehr Schönes zu spät war – Michael Rudolf und Volker Kriegel – Dieter Steinmann
Als Tellerwäscher beim Militär – Michael Rudolf
Sudau aus Schleiz – Jürgen Roth
OTZ & Reiner Karg – Michael Rudolf
Zeit für einen Pilzkongreß – Michael Rudolf
Ehrliches Tagebuch (1) – Horst Tomayer
Nicht um jeden Preis – Michael Rudolf
Man könnte … – Michael Rudolf
Wahre Schreibtische. Heute: Michael Rudolf – Dieter Grönling
Tomtetypen – Michael Rudolf
Amazon, Bärlauch, CD-Rohling – Mein kleines, nicht ganz vollständiges Michl-ABC – Klaus Leweke
»Der saubere Herr Rudolf« (Eine Filmkritik) – Eugen Egner
Keiner von denen – Rüdiger Grothues
Rucola-statt-Rauke-Rabauken oder: Stoppt den Genußzwang! – Michael Rudolf
Lupenreine Verbrecher – Thomas Behlert
Keine Chance für Doc Sudau – Michael Rudolf
Was erlauben Fußball? – Michael Rudolf
Platte des Monats – Michael Rudolf
Hessen! Schluß! Ende! Aus! – Michael Rudolf
Preußen! Schluß! Aus! Sense! – Michael Rudolf
Polenhasser an Schmierfink – Ein Mailwechsel – Peter Köhler
Das bleibt – Kay Sokolowsky
Sick of Sick – Michael Rudolf
»Na, wie war ich?« – Sudau forever – Marit Hofmann
Spritzenhaus vor dem Aus – Michael Rudolf
HumorCare Deutschland – Michael Rudolf
Die vier Wunder des Herrn R. – Hans Zippert
Ehrliches Tagebuch (2) – Horst Tomayer
Ehrliches Tagebuch (3) – Horst Tomayer
Sudaus Verschwinden – Michael Rudolf
»Morgenbillich« – Auszüge der Hörspielfassung – Michael Rudolf
Mit Inhalt, nicht mit »Content« – Peter Köhler
No-go-Area – Michael Rudolf
MICHL RUDOLF, ALTER SEEBÄR!
So hatten wir zwar nicht gewettet; aber Du hast es so gewollt: im Greizer Wald, wo Du vor vierzig Jahren zusammen mit Deinen Großeltern sämtliche bekannten Pilz- und Reharten der nordöstlichen Hemisphäre in einem Akt spontaner Willkür komplett um- und neubenannt hast, kurz nach dem Rechten zu sehen und dann die Lebensnot- und -mutreißleine zu ziehen.
Michl, alter, guter Stiefel: Jetzt trinkst Du uns im Deutschen Brauer-Bund-Himmel die siedend schönen Bierkessel auf eigene Rechnung leer und weg, und bei solch sauberer Feinarbeit wollen wir Dich auch nicht stören, auch wenn wir’s zu gerne täten. Aber, good old Lump, hinauf zu Dir brüllen und jammern dürfen und müssen wir doch: Keep on rockin’ and drinkin’ in a Binding-free world!
Deine Schwermutmatrosen von stets Deiner
Titanic
Titanic 8/2007
HOLGER SUDAUS LEBENSLAUF
1961 Holger Sudau wird am 14. Mai in Marienberg als einziger Sohn der Unterstufenlehrerin Helga Katharina Forkel und des Psychologen Paul Werner Sudau geboren.
1962 Das hyperaktive Kleinkind demontiert die Steckdosen im Schlafzimmer und macht mehrfach »Bautz« mit dem Stubenwagen.
1963 Nichts Besonderes.
1964 Erste und höchstwahrscheinlich auch letzte Forschungsreise nach Liberec.
1965 Holger fällt vom Kletterpilz des Kindergartens »Anne Frank«.
1966 Holger wird fünf.
1967 Einschulung.
1968 Mehrfacher Klingelrutsch bei Familie Muschko in der Breitscheidstraße. Mehrmonatiger Oelsnitz-Aufenthalt.
1969 Taschengelderhöhung auf 1 Mark pro Woche.
1970 Der Neunjährige verlernt heimlich das Klavierspielen.
1971 Holger stößt sich in Frotschau mit dem Kopf am Ofenverschluß der Jugendherberge.
1972 Holger kippt in Frotschau kopfüber von der Wippe.
1973 Holger wird in Frotschau nur knapp von einem Stein am Hinterkopf verfehlt. Forschungsaufenthalt im Pöllwitzer Wald und Pilgerreise zum Fraureuther Flegelaltar.
1974 Verwandtenbesuch im Dorf Nietzschareuth. Unkomplizierte Mandeloperation.
1975 Holger verliert in der Talsperre Pöhl seine schöne blaue Taucherbrille und muß ein halbes Jahr für Ersatz sparen.
1976 Holger trägt vorübergehend Seitenscheitel.
1977 Mißglückte Studienreise nach Polen.
1978 Mehrere Entdeckungsreisen an die Ostsee.
1979 Abitur. Holger lernt Tina Peißnitz, seine spätere Lebensgefährtin, kennen.
1980 Studium der Kriegskunst.
1981 Beginn des Studienaufenthaltes in Halle.
1982 Ende des Studienaufenthaltes in Halle.
1983 Studienaufenthalt in Reichenbach.
1984 Rede auf dem Prager Parteitag der Radikalen Mitte.
1985 Kongreß Konkretes Forschen. Studienaufenthalte in Ungarn und Dippoldiswalde.
1986 Wochenend-Forschungsferien auf der Burgruine Liebenau.
1987 Sudaus Fahrrad wird im Wald gestohlen. Erster Westberlin-Aufenthalt.
1988 Keine Ausstellungen in Berlin, New York und Krumpa-Lützkendorf. Ingenieur. Zweiter Westberlin-Aufenthalt.
1989 Sudau verfolgt uninteressiert die politischen Wirren und engagiert sich nicht aktiv bei den Demokratiebewegungen.
1990 Sudau verschwindet plötzlich.
»Morgenbillich« – Die Wahrheit über Holger Sudau,
Münster: Oktober Verlag 2003
1979.
1982.
1981.
MICHA
Michael. Micha. Die Erinnerungen an ihn blitzen in meinem Gehirn auf wie tausende Irrlichter. Eher verwirrend als erhellend. Es sind schöne Erinnerungen, die meisten sind unklar, hinterlassen aber ein Gefühl der Wärme.
Am 1. September 1975 habe ich Michael kennengelernt. Es war unser erster Schultag an der Greizer Penne, der EOS »Dr. Theodor Neubauer«. Dort sollten wir die nächsten vier Jahre gemeinsam bis zum Abitur in einer Klasse verbringen. Teilweise kannte man sich untereinander. Doch Michael, der genau einen Tag älter war als ich, kannte ich noch nicht.
Er war kein Lauter, aber auch keiner, der sich immer unterordnete. Kritik verpackte er schon damals oft in spöttische Bemerkungen oder formulierte er so, daß bei manchem der Groschen erst später fiel. Und ich habe den Verdacht, daß er dabei häufig diebische Freude empfand.
Ich erinnere mich an eine Episode, die mich damals schon tief beeindruckte. Michael mußte an die Tafel und irgendeinen Sachverhalt darstellen. Worum es ging, weiß ich nicht mehr, aber ich sehe ihn noch dort stehen. Er positionierte sich mitten vor der Tafel, begann mit links zu schreiben, wechselte die Kreide in die rechte Hand und fuhr fort, sein Wissen zu fixieren. Keinen Schritt bewegte er sich nach links oder rechts. Ich dachte: »Einseitig is’ er nicht.«
Mit einem Grinsen setzte er sich wieder, den Moment der ungeteilten, teils auch bewundernden Aufmerksamkeit genießend.
Prägend für ihn war aber auch seine Liebe zur Musik. Da galt er als echter Kenner. Und er wußte so vieles über Frank Zappa, Bob Dylan und all die anderen. Folgerichtig wurde er schon zu einem der ersten Klassenabende, die immer mal wieder von uns im Schuljahr gefeiert wurden, zum Musikverantwortlichen ernannt. Wir saßen dann in irgendwelchen Räumen außerhalb der Schule zusammen, redeten, tanzten oder lauschten einfach der Musik. Und hinterher klappte auch der Zusammenhalt in der Schule häufig besser.
Er war mit vierzehn in vielem ernsthafter als so manche Jungen gleichen Alters, konnte aber genausogut und genauso gern rumblödeln, wenn auch nicht selten auf deutlich höherem Niveau. Irgendwie hatte ich manchmal das Gefühl, daß er uns veralberte und wir es oft genug nicht merkten. Das mag auch mit seiner nicht einfachen Kindheit zu tun gehabt haben. Er lebte bei seinen Großeltern und hatte es wahrlich nicht leicht. Ein behütetes Elternhaus, wie es viele von uns kannten, hat es für ihn nicht gegeben. Schon früh mußte er mit Problemen und emotionalen Verletzungen fertig werden, die er nie nach außen trug. Nur manchmal und meist nach langen Gesprächen klangen diese andeutungsweise an. Doch wenn man nachfragte, wechselte er häufig ganz charmant und grinsend das Thema. Er hat sich, so glaube ich, schon damals eine Fassade zugelegt. Er hat nur wenige wirklich in sein Inneres sehen lassen. Und mit seinen oft spöttischen Bemerkungen hat er sich nicht nur Freunde gemacht. Er polarisierte mit seinem Wesen.
Jahre später, wir fuhren zufällig im gleichen Zug von Leipzig nach Reichenbach/Vogtland, es muß während der Buchmessezeit gewesen sein, erzählte er mir von seinen Begegnungen mit Manfred Böhme. Dieser lebte damals eine Zeitlang in Greiz und scharte Intellektuelle und Jugendliche um sich, die er zu philosophischen Diskussionen und Denkweisen, zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen und zu literarischen Betrachtungen anregte. Michael war einer von ihnen und hat viel aus diesen Zusammenkünften im Humboldt-Klub, die hie und da auch den Anschein konspirativer Treffen gehabt haben müssen, verinnerlicht.
Später erlangte dieser Manfred Böhme, zwischenzeitlich hatte er sich den zweiten Vornamen Ibrahim zugelegt, nationale Bekanntheit, als er 1990 für die SPD als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten der DDR ins Rennen ging, kurz bevor seine Tätigkeit für die Stasi offenbar wurde. Letzteres war für viele ein Schock – daß ausgerechnet derjenige, der zum Denken und Widerspruch animierte, seine »Freunde« schmählich verriet.
Ich erinnere mich, es war irgendwann nachts, wahrscheinlich nach einem Klassenabend, wir standen an einer Weggabelung und redeten und redeten, stundenlang. Über Gott und die Welt, vielleicht auch über Musik, von der ich herzlich wenig Ahnung hatte, über die Michael aber so wunderbar erzählen konnte. Seine Sicht der Dinge deckte sich häufig mit der meinen, und da, wo mir vieles nicht klar war, brachte er mit einer kleinen Bemerkung manchmal Licht ins Dunkel.
Später, ich arbeitete inzwischen in der Bibliothek, haben wir uns oft gesehen. Er war ein sehr aktiver Nutzer, wohnte ja auch gleich um die Ecke. Ich weiß noch, daß er historische und regionalkundliche Literatur, aber auch immer wieder Anthologien bevorzugte. Die regionale Geschichte hat er ja dann auch in einigen Publikationen niedergeschrieben, sei es zur Burg Liebau, im Bildband über die Burgen im Vogtland oder im kleinen, 2002 erschienenen Bildband Greiz. Vor allem in letzterem wird trotz allem seine Verbundenheit mit dieser Stadt deutlich.
Er hatte es nicht immer leicht, und insbesondere ein Artikel, Anfang der Neunziger in der Titanic erschienen, sorgte für einen Aufschrei in der Stadt. Durch die Presse geisterten Artikel, die den »Schmierfink« Rudolf anprangerten, der die Stadt verunglimpfe. Die Titanic hatte bis zu diesem Zeitpunkt kaum jemand in Greiz gekannt, geschweige denn gelesen. Doch wie das häufig so ist, hat sich in Windeseile herumgesprochen, daß da Michael Rudolf einen Artikel veröffentlicht habe, der ja so schlimm und unverschämt sei. An diesem Tag, wir hatten die Zeitschrift in der Bibliothek noch nicht mal, rannten uns die Leute fast die Türen ein. Jeder wollte ihn lesen. Wie es der Zufall so wollte, kam auch Michael just an diesem Tag vorbei und konnte sich seines bekannten Grinsens kaum erwehren. Er hatte, wie in einer satirischen Betrachtung ja normal, das kleinstädtische Leben und die Verschiebung des Wichtigen auf ernährungsrelevante Aktivitäten aufs Korn genommen. Art pour l’art. Art Poulard. Der Umgang mit Satire mußte auch hier erst gelernt werden.
1992 arbeitete er im Landratsamt in der Unteren Denkmalschutzbehörde. Er erfaßte und beschrieb die Objekte der Kreisdenkmalliste Greiz. Auch hierbei waren seine Kenntnisse der regionalen Geschichte wichtig. Noch heute existieren hier zahllose Akten mit dem Vermerk »Bearbeiter: Rudolf«.
Die Gründung seines Verlages Weisser Stein, zusammen mit Gerd König, war für ihn ein Traum. Er hatte mir lange vorher schon mal davon erzählt, auch daß er in einem Berliner Verlag ein Praktikum oder Volontariat machen wollte. Das war das, wo er sich und seine Interessen verwirklichen konnte. Das Verlagsprogramm machte es dann auch deutlich. Er legte wichtige regionalgeschichtliche Literatur wie den Reußischen Robinson oder Die Geschichte der Stadt Greiz wieder auf, nahm aber auch kleine Bändchen beispielsweise von Greser & Lenz oder Gerhard Henschel ins Verlagsprogramm, die nicht dem Mainstream entsprachen und auch nicht vordergründig dem Kommerz geschuldet waren. Auch Ausstellungskataloge des Greizer Satiricums gehörten dazu – Drei Jahrhunderte Satire aus dem Sommerpalais Greiz und der Katalog zur 1. Triennale »Karikatur, Cartoon & Komische Zeichenkunst«.
Im Satiricum, also im Greizer Sommerpalais, war Micha auch immer ein gerngesehener Gast, wenn er auch nicht bei jeder Vernissage oder Veranstaltung dabei war. Bei F. W. Bernstein, Sebastian Krüger oder Rudi Hurzlmeier war er auf jeden Fall da. Immer wieder unterhielten wir uns dabei auch über seine Bücher, die – wie das Bierlexikon – so manchen Rechtsstreit heraufbeschworen oder – wie Die Thüringer pauschal – wieder die Kritiker auf den Plan riefen.
Während der Vernissage von Rudi Hurzlmeier im Sommer 2005 hat er mir zum erstenmal von seinen Depressionen und seiner Krankschreibung wegen des Burnout-Syndroms erzählt. Es war eigentlich das erstemal, daß er schnell und offen über seine Probleme gesprochen hat. Und es hat mich tief erschreckt. Ich hatte ihn stets als stark und sicher empfunden, wenngleich ich immer wußte, daß er sich nach außen anders gibt. Nicht mehr schreiben zu können und seinen eigenen Ansprüchen nicht zu genügen, das war für ihn unglaublich schlimm. Ich hätte ihm so gern geholfen.
Und so war ich richtig froh, als wir uns im Oktober 2006, es war nach der Ausstellungseröffnung »Von Kindern und anderen Riesen« von Manfred Bofinger, noch abends beim Griechen in der Altstadtgalerie trafen. Ina und Eva waren auch dabei, Fritz Weigle war da, Luise, die Tochter von Manfred Bofinger, und Gabriele Bofinger und einige Mitarbeiter des Satiricums. Michael wirkte so fröhlich, er warf sich mit Eva die Gesprächsbälle zu, daß es eine wahre Freude war zuzuhören. Wenn er sich mit ihr über die Simpsons, die für beide zum täglichen Ritual zählten, unterhielt oder über Walter Moers oder überhaupt. Auch von seiner kleinen Brauerei im Keller seines Hauses erzählte er mit leuchtenden Augen. Das war nicht gespielt, soweit kannte ich ihn dann doch. An diesem Abend ging es ihm gut, und ich wollte so gern glauben, daß dies ein dauerhafter Zustand sei.
Klassenabend, 1976.
Erweiterte Oberschule (EOS) »Dr. Theodor Neubauer«, 1977.
Klassentreffen, 1979.
EOS »Dr. Theodor Neubauer«, 1979.
Greiz, Lessingschule, bis 1990 Polytechnische Oberschule (POS).
Gymnasium Greiz, vormals EOS.
Haus der Großeltern, Rudolf-Breitscheid-Straße 15, Greiz.
ZWEI FINGER FÜR EIN HALLELUJA
Die zweite Beerdigung des Jahres war sogar noch komischer als die erste im März. Irgendwann während des Leichenschmauses war das Niveau da, wo es hingehörte: unterirdisch. Die Hinterbliebenen erzählten sich Kinderwitze aus der Wortspielhölle. Mein Favorit: Findet ein Junge im Zug einen Hut. Im Inneren des Hutes ist ein Name eingestickt: Reinsch. Geht der Junge mit dem Hut durch den Zug und fragt: »Irgend jemand, der hier Reinsch heißt?«
Gibt es im journalistischen Gewerbe eigentlich die Sparte des Beerdigungskritikers? Ich melde mich freiwillig, und da der Tod in letzter Zeit immer näher kommt, bringe ich inzwischen einige Erfahrung mit. Innerlich gewöhne ich mich schon an die Berufsbe-zeichnung und sehe auch die entsprechende Zeile auf meiner Visitenkarte vor mir: »Beisetzungskritiker«. Das klingt doch nach etwas! Auch wenn es ein noch viel zu unterbewerteter Berufszweig ist. Etwa so unterschätzt wie der des Bestatters. Warum kennt man nur so wenige Bestattungsunternehmer? Wahrscheinlich gibt es in diesem Metier höchst luzide Persönlichkeiten. Wie zum Beispiel jene Bestattungsfachkraft, der ich vor der Friedhofskapelle am vergangenen Freitag die Hand gab.
Kurz darauf saß ich in der Kapelle und fixierte das mittlere der drei bunten Kirchenfenster. Reflexartig war ich in das alte Konfirmandensyndrom verfallen: Sitzt du in einer Kirche, dann suche dir einen markanten Punkt, fixiere ihn unentwegt und lasse deine Gedanken schweifen, bis dir etwas Komisches in den Kopf kommt. Dann denke an nichts anderes mehr. Das hilft, wenn es auf der Kanzel zu pathetisch wird oder der Schmerz dich überwältigt oder dich die Wut überkommt wegen der Abwesenden, die zu feige waren, zu erscheinen, um dem ehemals eng Befreundeten die letzte Ehre zu erweisen. Unehrenhafte Leute sind das, die Angst haben, auf Trauernde zu treffen, mit denen sie verfeindet sind. Als ob das im Angesicht des Todes zählen würde.
An genau dem Punkt war das Beiseitedenken sehr nützlich, ausnahmsweise aber berechnete ich einmal nicht die Entfernung zwischen mir und dem Kirchenfenster und wie lange ein Stein bräuchte, um im Fensterkreuz einzuschlagen. Meine Gedanken umkreisten vielmehr den Bestatter, genauer: seine Hand, die ich eben noch gedrückt hatte. An der Rechten, wie ich gleich bemerkte, fehlten ihm der Ring- und der Mittelfinger. War ihm ein Sargdeckel draufgefallen? Oder war er beim Zersägen abgerutscht? Oder wollte er absichtlich ein Teufelshorn haben? Oder hatte er eines Tages, verzweifelt über sein ewiges Ringen mit dem Tod, dem Sensenmann den Stinkefinger gezeigt, der ihm zur Strafe gleich zwei Finger absäbelte? Und bestellt er heute in seiner Stammkneipe zu fortgeschrittener Stunde auch schon mal fünf Bier für die Männer vom Sägewerk und hält dann dem Wirt drei Finger hin? Haben Bestatter überhaupt Humor?
Eine letzte Frage: Hat man keinen Respekt vor den Toten, wenn man bei einer Trauerfeier Komisches denkt? Im Gegenteil! Sonst hätte der Tod ja gewonnen. Humor ist das einzige Mittel, den Tod zu besiegen. Man sollte mal mit einem Bestatter ein Bier trinken gehen. Vielleicht kennt er noch eine andere Methode.
taz, 17. August 2007
EIN STÄDTEBAULICHES DESASTER FÜR GREIZ
Greiz. Wenn erst einmal in einer thüringischen Kleinstadt mit reichlich 30000 Einwohnern der marktwirtschaftliche Groschen gefallen ist, dann gibt es kein Halten mehr. Was derzeit heiße Köpfe bei engagierten Bürgern erzeugt, ist eine geplante fünfspurige Entlastungsbrücke über die Weiße Elster, um die Greizer Innenstadt vom Verkehr der Bundesstraßen 92 und 94 freizuhalten. Die Blechlawine beschert der Stadt nicht erst seit 1990 morgens von sieben bis elf und nachmittags von 14 bis 18 Uhr den Kollaps mit mehr stop als go. Die ungünstige Tallage fördert zudem eine nicht nur den Einwohnern hart zusetzende Dunstglocke.
Das Ganze ist eigentlich hausgemacht, denn die neuen Westautos wollen ausgefahren sein, der öffentliche Nahverkehr erscheint unattraktiv. Daß freilich der Individualverkehr in der Stadt problematisch ist, war bereits zu SED-Zeiten bekannt, Projekte für eine Art Entlastungshochstraße geisterten durch die Bauämter, aber eben nur dort. Mit der Wende und den seit jüngst zur Verfügung stehenden Mitteln aus Bonn wurden vergilbte Pläne wieder ausgerollt.
Angesichts der Bestrebungen in den alten Bundesländern, die Straßen »zurückzubauen«, nehmen sich die Aktivitäten in Greiz eher grotesk aus. Der aus dem Westen importierte Bürgermeister Leonhardt (CDU) drückt bei den Stadtverordneten kräftig auf die Tube, man solle schnell entscheiden, da die Mittel nicht unbegrenzt lang bereitstünden. Da ganz im Sinne von Bundesverkehrsminister Krause alles so schnell wie möglich gehen soll, blieb die generell in solchen Fällen übliche Ausschreibung eines Architektenwettbewerbs