"Dann hör doch einfach auf…!" - Lebensgeschichte eines Alkoholikers
Aus dem Kapitel: Tiefe Wurzeln in der Vergangenheit
In dem Sechs-Parteien-Haus, in dem ich aufwuchs, ging es Anfang der 80er Jahre recht munter zu. Die Nachbarn hatten sich im Laufe der Jahre miteinander arrangiert, ja angefreundet; die Kinder waren alle langsam im Teenageralter und das Fahrradgeschäft meines Vaters im Nebenhaus verlieh der ganzen Haus- und Hofgemeinschaft eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl. Jeder kannte jeden, man sah sich täglich und hatte sich natürlich auch immer wieder den neusten Klatsch zu erzählen. Wir lebten die „Lindenstrasse“ bevor es sie gab. Natürlich spielten die Kinder Fußball und die Väter waren aufgeteilt in „Bayern“- und „1860“-Anhänger. Die Jungs taten es ihnen gleich und alles in allem waren wir eine verschworene kleine Wohngemeinschaft.
So ergab es sich natürlich auch, dass man sich gelegentlich einlud um abends im Wohnzimmer zusammen mit den „Männern“ jeden Alters Fußball zu gucken, wenn Spiele im Fernsehen übertragen wurden. […]
Niemand kam auch nur auf die Idee, dass man einem 14-jährigen vielleicht nicht pro Halbzeit ein Bier einschenken sollte. Nein, es war doch so, dass es Alles in Allem toll war, wenn die Jungs erwachsen werden wollten, mitredeten und natürlich auch mittranken. So schlimm war das alles ja auch nicht. Bier ist ja in Bayern ein Grundnahrungsmittel, und das schadet ja keinem. Mir hat es auch nicht geschadet, jedenfalls nicht bis ich nach dem Schlusspfiff aufgestanden bin.
Ich wollte nur einen Schritt nach vorne machen und krachte ohne es zu merken seitlich gegen den neuen Wohnzimmerschrank der Nachbarn. Das Gelächter war die Krönung des Abends. Nicht, dass ich ausgelacht wurde, nein, das Lachen war mehr als Anerkennung gedacht. „Passt’s auf, der Bua hat ja einen Rausch“, so klang es durch den Raum. Ich fand schließlich den Weg in unsere Wohnung im ersten Stock und kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass mir damals ein Vorwurf gemacht wurde. Ich wurde von diesen Monaten an dazu erzogen, den Alkohol als etwas Alltägliches zu betrachten. Verboten hat es mir eigentlich niemand. Schließlich war mein Papa an diesem und an vielen anderen Tagen meiner Trinkerkarriere ja mit dabei.
Es ist weiß Gott nicht so, dass ich ihm oder irgendjemand anders einen Vorwurf daraus machen würde, meine Eltern haben mich so gut erzogen wie sie konnten. Sie selbst konnten jedoch nie eine kritische Einstellung gegenüber Suchtkrankheiten wie Rauchen, Trinken usw. aufbauen, zu sehr waren diese „Allerweltssünden“ bei ihnen beiden selbst beheimatet. Sucht bedeutete Sachen wie Heroin oder ähnliche illegale Substanzen, aber nicht Alkohol. Und Bier ist ja auch nicht gleichzusetzen mit Sachen wie Schnaps, Cognac, „harten Sachen“. Dass alleine der Bierkonsum in der Familie schon vor Generationen „Einschläge“ hinterlassen hatte, wurde geflissentlich übersehen. Bier ist einfach zu „normal“ um als Todbringer angesehen zu werden.
Während und nach meiner Therapie entstand in mir eine Distanz zu diesem Leben und dieser Einstellung die nur mit 180-Grad-Wendung zu beschreiben ist. Ich kann mir seitdem sehr gut vorstellen wie hilflos und einsam mein Vater und all die anderen vor ihm in der Familie waren, als sie Trost, Flucht oder einfach nur Entspannung im Alkohol suchten. Sie merkten dabei nicht, dass sie an dem Ast sägten auf dem sie saßen – und auf den sie mich setzten, als sie mich großzogen.