Burn-In. Oder wie Parzer der Glückseligkeit verfiel
„Du musst zu einem Therapeuten gehen, ich flehe dich an!“, hatte Julia mich beschworen. „Dein ganzes Verhalten wirkt auf mich total depressiv. Diese fürchterliche Passivität auf einmal!“
„Ich fühle mich aber kein bisschen depressiv“, hatte ich entgegnet. „Nicht mal ansatzweise. Und passiv? Also ganz ehrlich, ich weiß nicht, wie du da darauf kommst. Ich gehe zum Beispiel viel mehr spazieren als früher. Schon mal bemerkt?“
„Das sagt rein gar nichts! Es riecht irgendwie alles nach Burnout bei dir. Du hast dich wahrscheinlich in all den Jahren ständig überarbeitet.“
„Ich weiß ja nicht. Meinst du wirklich? Das scheint mir ziemlich aus der Luft gegriffen.“
„Doch, bestimmt! Denk doch nur mal daran, wie du damals Tag und Nacht rotiert bist, als du noch gleichzeitig den Bürojob und das Kreistagsmandat hattest und dann auch noch in diesen ganzen Arbeitskreisen der Landesgruppe rumgefochten hast. Die Belastung, die war doch regelrechter Wahnsinn!“
„Hm. … Mag sein“, hatte ich erwidert. „Vielleicht hast du ja Recht, wer weiß.“
„Glaub mir, das ist der richtige Schritt. Du hast ein echtes Problem und benötigst professionelle Hilfe.“
Auf Dr. Sinnvogel war ich gestoßen, nachdem sich der Versuch, im Großraum Lörrach auf die Schnelle einen Therapeuten zu finden, als hoffnungsloses Unterfangen erwiesen hatte. Sämtliche Seelenklempner besaßen monatelange Wartelisten, ohne die geringsten Aussichten auf einen raschen Quereinstieg. Jenseits der Grenze hingegen sah die Sache etwas besser aus, sofern man bereit war, die Finanzierung aus eigener Tasche zu stemmen.
Dr. Sinnvogel residierte in einem schmalen, von Jasmin und Knöterich umrankten Altbau in einem Seitengässlein der Basler Altstadt, in der Nähe des Rümelinplatzes.
„Es ist also so“, fasste Sinnvogel meinen Einstiegsbericht zusammen, „dass Ihnen auf einmal für viele Dinge der Elan fehlt, die Sie zuvor gezielt und auch mit Freude und Anteilnahme betrieben haben.“
„Das trifft es nicht ganz. Eher würde ich sagen: Diese Dinge sind auf einmal nebensächlich geworden. Im Grunde sogar irrelevant.“
„Und was ist Ihnen stattdessen wichtig?“
„Das sagte ich Ihnen ja schon: Alles andere hat seine Bedeutung verloren, seit ich begriffen habe, dass bereits die nackte Existenz ein Riesengeschenk ist. Rein kosmologisch betrachtet, meine ich. Die wenigsten Leute machen sich das ja klar, aber überhaupt zur Welt gekommen zu sein, das ist schon der eigentliche Triumpf im Leben! Und das mal wirklich kapiert zu haben, das kann einen ohne weiteres dazu bringen, in jedem Moment des Tages vollkommenes Glück zu empfinden. Jedenfalls gilt das für mich.“
„Und das hat Ihr Leben verändert.“
„Absolut. So sehr ich mich auch bemühe – und ich kann da wirklich anstellen was ich will: Ich schaffe es einfach nicht, meine früheren Prioritäten auch nur ansatzweise wiederzubeleben. No chance!“
„Und darunter leiden Sie.“
„Überhaupt nicht! Sie haben mich nicht richtig verstanden. Ich war nur anfangs ziemlich irritiert darüber. So total entspannt auf mein Leben zu blicken, das war mir neu. Das hatte ich bisher so nicht gekannt.“
„Die Veränderung bewirkt also keinen Leidensdruck bei Ihnen.“
„Nicht im Geringsten. Aber sie macht meine Umgebung nervös.“
Dr. Sinnvogel unterbrach erneut das Gespräch, um sich eine Notiz zu machen.
„Sie sagten auch“, fuhr er dann fort, „dass Sie plötzlich wichtige Sachen vergessen haben. Den Unterricht für Ihre Studenten zum Beispiel. Und das Vorwort für ein Buch?“
„Ja. Obwohl ich diesen ganzen Kram im Grunde nicht wirklich vergesse.“
„Sondern?“
„Er ist in letzter Zeit nur irgendwie verblasst.“
Ein abermaliges Kritzeln mit dem Füllfederhalter. Anschließend legte der Doktor, der den Ellenbogen auf den Tisch gestützt hatte, eine Weile schweigend die Stirn in seine Hand.
„Nun gut“, sagte er schließlich. „Wir werden gemeinsam herausfinden, was dahinter steckt.