Verstehen Sie Ihren Verstand?
Viele Menschen fragen sich, wenn sie über sich selbst nachdenken: „Wer war zuerst da, ich oder mein Verstand?" Diese Frage impliziert allerdings schon die Annahme, dass man zwischen dem Ich und dem Verstand trennen kann. Mein Ich, also meine Identität, wird als etwas anderes erlebt als mein Verstand, den ich eher als ein Instrument betrachte. So wie ich mit meiner Hand etwas greifen und bewegen kann, kann ich auch mit meinem Verstand etwas begreifen und meine Gedanken bewegen. Ob diese Trennung zwischen dem Ich und dem Verstand richtig ist, wollen wir in den folgenden Kapiteln untersuchen.
Identität - bin ich einzigartig?
Im Zusammenhang mit der modernen Hirnforschung werden immer wieder sehr komplexe Fragen diskutiert. Die eine lautet „Wer bin ich?", die zweite „Was ist Bewusstsein?" und die dritte „Habe ich einen freien Willen?" Über alle drei könnten Hirnforscher, Psychologen und Philosophen hervorragend diskutieren, ohne dass man am Schluss zu einem eindeutigen Ergebnis käme.
Ich bin der Überzeugung, dass sich sowohl das Ich als auch das Bewusstsein und letztendlich auch der freie Wille aus dem Zusammenspiel aller Elemente des Denkens ergeben. Es gibt im Gehirn keinen festen Ort, an dem das Ich gespeichert ist, an dem Bewusstsein entsteht, und auch keinen, an dem sich der freie Wille manifestiert.
Alles erfolgt im Zusammenspiel verschiedener Regelmechanismen an verschiedenen Orten im Gehirn. Das Bewusstsein ist nur eine Momentaufnahme von wenigen Sekunden, es umfasst das, was ich gerade jetzt denke, sage, schreibe oder auch erinnere.
Es ist praktisch wie ein Scheinwerfer, den wir in dunkler Nacht auf unsere Umgebung richten. Was im Kegel des Scheinwerfers ist, erkennen wir klar und deutlich. Wenn wir ihn weiterbewegen, sehen wir neue, andere Dinge, und doch wissen wir, dass das, was wir vorher gesehen haben, immer noch vorhanden ist, auch wenn wir es nicht mehr sehen.
Ebenso verhält es sich mit dem Ich. Ich weiß, wer ich jetzt bin und kann mich auch anderen Menschen gegenüber erklären. Dabei setzt sich das Ich aus einem Kaleidoskop der unterschiedlichsten Elemente zusammen. Ich bin, was ich gerade fühle, was ich mir wünsche. Aber zum Ich gehören auch mein Körper, mein Familienstand, mein Beruf, meine politischen Ansichten und selbst meine Familie, meine Freunde, mein Haus und mein Auto. Alles gehört irgendwie zu mir dazu.
Mein Ich reicht also über meine Person hinaus und manifestiert sich in vielen Attributen, die mir alle so lange gar nicht bewusst sind, bis ich sie mir ins Bewusstsein rufe oder sie mir von anderen ins Bewusstsein gerufen werden, zum Beispiel mit der Frage, ob ich etwas mag oder etwas nicht mag.
In einem ganz engen Kernbereich mag mein Ich vielleicht unveränderbar sein, doch es reagiert höchst empfindlich auf seine Umgebung. Je nach der Situation, in der ich mich befinde, tritt ein bestimmter Aspekt des Ichs in den Vordergrund.
Auch das Kern-Ich verändert sich ganz sicherlich aufgrund neuer Erfahrungen. Dabei ist es nicht so, dass der Mensch diese Veränderungen in der Regel bewusst steuert, ja nicht einmal steuern kann, sondern dass sie eher von anderen Personen an ihm bemerkt werden. Zur Selbstwahrnehmung gehört immer eine gewisse Distanz. Ich weiß deshalb auch, wer ich vor zehn Jahren oder vor dreißig Jahren war. Zumindest weiß ich es aus heutiger Sicht besser als damals.