Schockdiagnose ALS. Leben und Pflegen: Zwei Seiten einer unheilbaren Krankheit
Aus Kapitel 1: Spätsommer 2003
BURKHARD
Mein Fuß gehorchte mir nicht.
Jedenfalls nicht so präzise, wie ich es aus zweiunddreißig Jahren aktivem Ballsport normalerweise gewohnt war. Seit meinem achten Lebensjahr hatte ich regelmäßig in einem Verein Fußball gespielt. Recht erfolgreich, nebenbei be-merkt. Deshalb bereitete es mir eigentlich keinerlei Schwie-rigkeiten, den Ball mit einem Fuß eine Weile in der Luft zu halten.
Doch heute, an diesem sonnigen Spätsommertag beim Kicken auf dem Spielplatz, gelang die Übung meinem zehnjährigen Sohn besser als mir. Von der Spitze meines rechten Turnschuhes prallte das Leder wieder und wieder nach vorn ab und rollte davon, anstatt senkrecht nach oben zu springen und erneut auf meinem Fuß zu landen. Es gelang mir nicht, den Ball zu kontrollieren.
Links funktionierte es besser. Das irritierte mich. Norma-lerweise handelte es sich bei meinem rechten Bein um mein Spielbein, mit dem sich die Bewegungen des Balles deutlich besser koordinieren ließen.
Aber so oft ich das kleine Kunststück heute wiederholte, das Ergebnis blieb das gleiche: Ich war nicht imstande, den Ball mit dem rechten Fuß senkrecht in die Luft zu kicken.
Die Ursache zu schlussfolgern, war nicht schwierig: Es musste am Fuß liegen. Es gelang mir offenbar nicht, die Fußspitze weit genug hochzuziehen. Hing sie herunter, sprang der Ball nach vorn weg, statt nach oben.
Hatte ich mir vielleicht die Sehnen auf dem Fußrücken überdehnt, ohne es zu bemerken?
Bisher hatte mein Körper immer funktioniert. Wahrscheinlich sogar sehr viel zuverlässiger als bei den meisten anderen Menschen. Der Fuß – was auch immer damit los war – würde sicherlich von selbst wieder in Ordnung kommen.
Aus Kapitel 4: Stiller Alarm
SILKE
„Du, ich hab da mal einen Termin gemacht“, erklärte mir Burkhard beinahe beiläufig.
Aha?
„In der MHH“, fügte er hinzu.
Jetzt wurde ich aufmerksam. MHH? Die drei Großbuch-staben flößten mir Respekt ein. Wegen eines Schnupfens machte man sich dort keinen Termin.
Funktionierte Burkhards Sprunggelenk doch noch nicht so gut, wie ich gedacht hatte? Musste er womöglich erneut operiert werden? War die alte Verletzung zu einem chroni-schen Problem geworden? Ich beschloss, mir den Tag frei zu nehmen und ihn nach Hannover zu begleiten.
Die MHH war riesig und so furchteinflößend, dass mich vor dem Haupteingang ein spontaner Fluchtinstinkt ergriff.
Bloß schnell wieder raus hier, solange es noch geht, schoss es mir beim Betreten des Klinikkomplexes durch den Kopf. Die Erinnerungen an die anstrengenden Krankenhausaufenthalte meines Vaters und die ständige Sorge um ihn krochen aus den hinteren Ecken meines Gedächtnisses hervor in den Vordergrund meines Bewusstseins.
Aber natürlich flüchtete ich nicht, sondern begleitete Burkhard. Ich durfte bei allen Untersuchungen dabei sein.
Das war komplett neu für mich. Denn selbst, als ich als Kind meinen Vater zum Arzt begleitet hatte, hatte ich bei den Untersuchungen nicht derart unmittelbar zusehen dür-fen. Außerdem waren die Erinnerungen mit den Jahren verblasst. Meine letzten Kontakte mit Medizinern waren beim Tierarzt gewesen und die nervenaufreibenden Behandlungen unserer Hündin Lucy hatte ich lieber aus meinem Gedächtnis verdrängt.
Außerdem hatte ich weder zu Nadeln noch zu Blut je ein entspanntes Verhältnis aufbauen können. Nicht einmal zu meinem eigenen. Und die Nadeln, die die Neurologen der MHH bei ihren Untersuchungen verwendeten, gehörten zu einer anderen Kategorie als alles, womit ich bisher unter dem Begriff ‚Nadel‘ in einer Arztpraxis konfrontiert worden war. Sogar die Menge an Blut, die Burkhard mithilfe dieser ‚Nadeln‘ abgezapft werden konnte, übertraf meine schlimmsten Erwartungen. Zum ersten Mal erschrak ich vor den Beschwerden meines Freundes.