Die Lukasbrüder. Die Nazarener und die Kunst ihrer Freundschaft
2. Die Schwestern des Lazarus
[…]
Als wir den Antikensaal betraten, saßen unsere Freunde mit den anderen Studenten bereits im Kreis vor ihren Staffeleien und zeichneten eine Gipsstatue, die lebensgroß in der Mitte des Raums stand.
»Konrad Hottinger, Friedrich Overbeck, Sie kommen zu spät.«
»Entschuldigen Sie, Herr Professor.«
Schnell setzten wir uns nebeneinander an die zwei freien Staffeleien und packten unsere Zeichenblätter aus.
[…]
Overbeck streckte seinen Arm lang aus und reichte mir ein Blatt Papier. Es war die Skizze für ein neues Bild, von dem er mir erzählt hatte. Sie stellte die Erweckung des Lazarus dar.
Jesus stand im weißen Gewand in der Mitte der Szene, umringt von einer knienden, betenden und staunenden Menschenschar. Alle blickten auf Lazarus, der von Jesus zu neuem Leben erweckt worden war und als Mumie aus seiner Gruft stieg. Die Grabplatte lehnte an einem Felsen. Overbeck hatte sich zur Rechten Jesu als Johannes mit Heiligenschein dargestellt. Das passte. Unter die Zeichnung hatte er geschrieben:
‚Jesus schrie: Lazarus, komm heraus!‘
In verschnörkelter Schrift, die ich nicht lesen konnte, stand etwas ganz klein darunter. Ich deutete auf den Text und zog fragend die Schultern hoch.
Overbeck flüsterte: »Am Tag der Auferstehung wird eine neue Schöpfung geboren.«
»Was meinst du …«
»Hottinger!«, unterbrach mich Caucig.
Ich verschwand hinter meiner Staffelei und musste grinsen, als ich mein Gesicht in einem Jünger zur Linken Jesu erkannte.
Am besten gefiel mir Pforr, der in das offene Grab starrte und von Maria und Magda, den schönen Schwestern des Lazarus, umgeben war. Leider hatte Overbeck die Damen nur von hinten gezeichnet.
Ich legte meinen Daumen auf den Text, und deckte mit meiner Hand die Christusfigur ab. Ungewollt bildeten mein Zeigefinger und mein Daumen ein L – wie Lukasbrüder. Und eingeschlossen in dieses L blieb eine harmonische Dreieckskomposition. Pforr und die zwei Schwestern, die sich liebevoll umarmten.
»Prachtweiber«, sagte ich und zeigte Overbeck das L meiner Finger.
»Hottinger, lassen Sie die albernen Gebärden!«, zischte Professor Caucig mir zu.
Ich erschrak, als Caucig plötzlich neben mir stand und mir das Papier wegriss. […]
»Was ist denn das für ein Kopf?«, fragte Caucig, als würde er mit einem kleinen Kind sprechen. Er nahm ein Stück Kohle und kritzelte an Lazarus herum.
»Er trägt ein Schweißtuch«, erklärte Overbeck.
»Und die Gewänder und Proportionen? Mir scheint, als würde kein rechter Meister aus Ihnen werden.« Caucig kürzte eines der Gewänder. Ich spürte, wie die Wut in mir hochstieg.
»Ich habe Christus absichtlich etwas größer gezeichnet, um seine Wichtigkeit hervorzuheben«, sagte Overbeck ruhig.
»Der sieht schon selbst aus wie Jesus mit seinen langen Haaren«, hörte ich einen Kommilitonen tuscheln.
»Nazarener«, spottete ein anderer.
Caucig schlug auf das Zeichenblatt. »Der aufgeklärte Mensch sollte sich an einem Ideal orientieren. Er braucht keinen Gott!« Er zerknüllte Overbecks Zeichnung in seinen Händen.
Overbeck stand auf. »Die Kunst ist eine Harfe Davids, auf der man Psalmen ertönen lassen sollte zum Lob des Herrn.«
Overbeck nahm seine Zeichenblätter und ging in Richtung Ausgang.
»Wo wollen Sie hin?«
»Ich bin es leid, dass Sie meine Seele zu Boden drücken und jedes höhere Gefühl für die Kunst in mir abtöten«, sagte Overbeck aufgebracht und hatte schon die Klinke in der Hand.
Caucigs dickes Gesicht wurde puterrot. Er warf die zerknüllte Zeichnung auf den Boden. »Sie bleiben hier. Das werde ich Ihrem Vater melden.«
Ich klemmte mir meine Zeichenmappe unter den Arm und ging in die Mitte des Saals. »Sie haben recht, Herr Professor. Wir brauchen keine Götter mehr.«
Ich versetzte Horus einen kräftigen Stoß. Die Gipsstatue kippte vom Sockel und landete mit einem lauten Krachen am Boden.
Caucigs Gesicht färbte sich von Rot zu Blauviolett.