Das Mirakelbuch. Historische Erzählungen aus dem Westerwald
Versprochen
(Hachenburg, Anno Domini 1636)
Es war die dritte Fuhre seit dem Morgen, eine weitere Todesladung. Obschon der Sommer bleiern über dem Land lastete, schauderte Almut beim Anblick dessen, was sie drüben auf dem Erbenfeld erspähte. Es war zu weit, um Einzelheiten zu erkennen, Gesichter vielleicht oder Stimmen zu vernehmen, aber nah genug, um zu begreifen, was dort vor sich ging. Seit Tagen dasselbe Bild, die sich immerfort wiederholenden Handgriffe der Totengräber. Der Leichenkarren, beladen mit zwei, drei, manchmal auch mehr, in schmuddelige Tücher eingewickelten Toten, wurde, kaum dass er zum Stehen gekommen war, in einer Hast, die eines Verstorbenen kaum würdig war, seiner faulenden Fracht entledigt. Zu zweit wuchteten sie die Leichname vom Karren, warfen sie, einen nach dem anderen, in die zuvor ausgehobene Grube und schaufelten Erde darüber, ohne Zeit zu verlieren.
Einmal in der Morgendämmerung hatte Almut sich herangewagt und mit angehaltenem Atem hinterm Gestrüpp gewartet, bis die Totengräber mit ihrem Karren wieder verschwunden waren.
Sie hatte geweint beim Anblick der ungezählten, nachlässig aufgehäuften Erdhügel, unter denen man die Menschen wie Tiere verscharrt und ohne Gebet vergraben hatte. Das Erbenfeld war ein Pestfriedhof geworden und die Sorge, der Schwarze Tod könnte auch Mattes geholt haben, raubte Almut beinahe den Verstand.
An den kühlen Stein der Scheune gelehnt, die ihr seit dem Tag ihrer Verbannung aus der Stadt als Bleibe diente, verschloss sie die Augen vor dem Grauen. So bemerkte sie die schwarzbraune Stute nicht, die in der Nähe mit lose herunter baumelnden Zügeln graste, ebenso wenig wie den neben ihr knienden Reiter. Besorgt dreinblickend betrachtete er die Fessel ihres rechten Vorderbeines, während er ungehaltene Flüche ausstieß.
Almut fuhr herum, als sie seine Stimme vernahm. Nur selten verirrten sich Durchreisende hierher. Obwohl der seit Jahren währende Krieg immer wieder Flüchtlinge und Soldaten in die Gemarkung an der Nister trieb, waren es, seit sie in der Scheune außerhalb der Stadtmauern lebte, kaum mehr gewesen, als sie Finger an einer Hand hatte. Ein Augenblick genügte, um den Fremden vom Kopf bis zu den Stiefeln zu mustern. Er sah gesund aus, gewaschen und sauber gekleidet, hatte braunes, schulterlanges Haar und einen dünnen Kinnbart. In seinem Gürtel steckten Reithandschuhe aus feinem Leder.
„Habt Ihr Euch verirrt, Herr?“
Sie hatte es nicht verlernt. Vielleicht gehörten zwanglose Plaudereien mit fremden Männern zu den Dingen, die einem, wenn man sie einmal beherrschte, in Fleisch und Blut übergingen. Dieser hier machte einen wohlhabenden Eindruck, außerdem waren die Packtaschen am Sattel seines Pferdes gut gefüllt, vielleicht bezahlte er mit Essbarem. Augenblicklich legte sie die Gedanken an die Seuche, an Mattes, all ihre Sorgen, den Hunger und die Angst ab wie ein zu eng gewordenes Kleid und schlüpfte in ihre zweite Haut. Wie zufällig hob sie beim Gehen ihren Rock etwas höher, als es nötig gewesen wäre. Mit der anderen Hand griff sie in die rotblonde Flut ihrer Haare. Sie verfilzten allmählich, doch noch fand Almut eine Strähne, die sich anmutig um den Finger drehen ließ. Sie setzte das aufreizende Lächeln auf, von dem sie wusste, dass die Männer es mochten, und ließ ihn, als nur noch ein Schritt zwischen ihnen lag, einen Blick in den Ausschnitt ihres Leibchens werfen.
„Nein, nicht verirrt.“ Der Fremde erwiderte ihre Koketterie mit dem Blick, den Almut erwartet hatte. Die Grübchen in seinen Wangen gefielen Almut, sie verliehen seinem Gesicht etwas Schelmisches. Doch der Augenblick dauerte nur kurz, gleich darauf trat er einen Schritt zur Seite und wandte sich wieder seinem Tier zu.
„Ich war im Gefolge meines Herrn unterwegs, als plötzlich mein Pferd lahmte“, sagte er. Das Lächeln wich, besorgt runzelte er die Stirn. „Ich musste absitzen, um es am Zügel zu führen und die anderen vorreiten lassen.