Das Geheimnis des Genter Altars
Köln, Gegenwart
Daniel dachte an das Feuer. Während ihm die Kälte zunehmend die Beine nach oben kroch, wärmte dieser Gedanke ihn wenigstens für einige Momente. […] Er dachte an Juri, während er die schwere Haustür aufschloss. Sie hatten sich für diesen Abend verabredet, nachdem Juri gestern aufgeregt vor Daniels Tür gestanden hatte. Irgendetwas schien ihn sehr beunruhigt zu haben, doch gestern konnte Daniel nichts weiter aus ihm herausbekommen. Juri war es gewesen, der ihm damals diese Wohnung vermittelt hatte, etwa ein Jahr nachdem sie sich bei einer Recherche im Archiv kennen gelernt hatten. Er überlegte. Zwei Jahre musste es nun her sein, dass er in die Wohnung direkt gegenüber von Juri eingezogen war.
Mit jeder Stufe nach oben und jedem Stockwerk änderte sich der Klang des Regens. Im zweiten Stock angekommen, schaute sich im Treppenhaus um. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er ließ den Blick wandern, aber Daniel konnte nicht sagen, was es war. Gegenüber lag Juris Wohnung ruhig und friedlich da, als warte sie geduldig auf ihren Bewohner. […] Er beschloss, an Juris Tür zu klopfen – vielleicht war er ja schon zu Hause. Langsamer als gewöhnlich bewegte er sich zur gegenüberliegenden Wohnungstür – fast wie ein Fremder im eigenen Haus.
Vor Juris Tür wartete er einen Augenblick mit erhobener Faust, bevor er einige Male klopfte. Etwas zu forsch, wie er sofort bemerkte, als die Scheiben in den Einfassungen schepperten. Er erschrak. Die Tür hatte sich einige Zentimeter bewegt und stand nun einen Spaltbreit offen. Juri hatte dieses Problem schon öfter gehabt, das wusste er. Manches Mal hatten sie darüber gewitzelt, dass jedermann in seine Wohnung kommen könnte, wenn man vergaß, die verzogene Tür fest zuzuziehen. Dennoch hatte er das Gefühl, dass es diesmal kein Zufall war. Vorsichtig schob er die Tür mit ausgestreckten Fingern auf, sodass sich der Blick in Juris Wohnung wie ein Vorhang langsam vor ihm öffnete. Das, was er da sah, verschlug ihm den Atem: Gegenstände und Jacken lagen überall verstreut auf dem Boden. Die Garderobe hing halb abgerissen von der Wand herunter, Schubladen aus der Kommode waren herausgerissen und deren Inhalt weit über den Boden verstreut, dazwischen lagen Glassplitter, Scherben und andere zerbrochene Gegenstände.
Bei Gott, was war hier passiert? Daniel stand wie erstarrt und wagte kaum, weiterzugehen. Die Wohnungstür war unversehrt – zumindest dem äußeren Anschein nach. Waren die Einbrecher noch in der Wohnung? Er überlegte, ob es besser sei, direkt zurückzugehen und die Polizei zu alarmieren, aber seine Intuition trieb ihn, weiterzugehen. Er hörte das Rauschen seines Blutes in den Ohren und spähte in die Küche. Auch hier ein Bild des Terrors – allerdings noch dramatischer als im Flur. Er näherte sich zögernd dem Wohnzimmer. So behutsam, dass sich sein Blickfeld durch die breite Tür nur ganz allmählich erweiterte. Eine furchtbare Ahnung legte sich wie ein Ring um seinen Magen und er hatte das Gefühl, nicht weitergehen zu können. Doch automatisch schaute er um die Ecke. Sein Denken setzte aus.
Er starrte auf den toten Körper Juris. Daniels Herz pochte bis unter die Schädeldecke. Mitten im Zimmer lag der Körper merkwürdig verkrümmt und verdreht auf dem Rücken, den Hals bis zum rechten Arm voller Blut, der linke Arm unter seinem Körper. Sein Kopf war nach oben in Richtung Tür gedreht, weit geöffnet und starr schienen die glasigen Augen Daniel direkt anzustarren – wie um Hilfe rufend. Rote Ringe befanden sich um seinen Hals, die von der locker darüberliegenden Nylonschnur zu stammen schienen. Auf der blassen und blutleeren Haut traten diese umso deutlicher hervor.
Daniel konnte sich von dem entsetzlichen Anblick seines Freundes kaum losreißen – Panik lähmte seinen Körper. Er stand wie versteinert in einem Moment der Zeitlosigkeit – außerstande, etwas zu unternehmen.