Darf man in einem Rechtsstaat auch links fahren?
Wer nie vom Weg abkommt, bleibt auf der Strecke
Sie, lieber Leser, sollten sich einmal gleich zu Beginn dieses Buches klar vor Augen führen, dass unser aller Leben in nahezu sämtlichen Lebensbereichen von geschriebenen oder ungeschriebenen Rechtsnormen geprägt und beeinflusst wird. Manchmal geschieht dies merklich, manchmal nicht. Wenn unser Auto wegen Falschparkens abgeschleppt wird und ein Gebührenbescheid über unverschämte 350 Euro in der Post liegt, können wir sicher sein, dass die Mühlen des Verwaltungsrechts mahlen. Hier wiehert der Amtsschimmel, und man merkt die Auswirkungen des Rechts sehr spürbar im eigenen Portemonnaie.
Wenn hingegen Jugendliche via Interrail in den Sommerferien von Köln nach Paris aufbrechen, merkt heute niemand mehr verwundert auf, obwohl die Möglichkeit einer solchen Reise (und dann Dank des Schengen-Abkommens auch noch ohne Passkontrolle!) historisch betrachtet alles andere als normal ist. Heute aber gewährleistet Artikel 21 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ein wichtiger Bestandteil der Verträge, die die Europäische Union bilden) die sogenannte Freizügigkeit innerhalb Europas. Dort heißt es unmissverständlich: "Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten." Ob Schüler daher demnächst von Fahrten nach London Abstand nehmen sollten, wird allerdings erst der Vollzug des Brexits zeigen.
Wir können dem Recht also nicht entkommen, was man in einem Rechtsstaat allerdings auch kaum anders erwarten würde. Flucht ist zwecklos: "Wer sich den Gesetzen nicht fügen will, muss die Gegend verlassen, wo sie gelten" (Johann Wolfgang von Goethe). Aber auch in anderen Gegenden, sprich Staaten, gibt es Gesetze, geschriebene oder zumindest ungeschriebene. Einen gänzlich rechtsfreien Raum gibt es auf dieser Erde nicht, jedenfalls nicht in einem Rechtsstaat. In Nordkorea mag man dies sicher anders beurteilen, sofern man vor seiner plötzlichen Exekution noch in der Verfassung ist, sich darüber Gedanken zu machen. Zwar mag das Recht in entlegenen Gebieten der Erde nur sehr eingeschränkt zur Geltung kommen; man denke nur an vom Menschen unbesiedelte Räume wie die Hohe See, die Antarktis oder das Weltall. Die Regelungsdichte ist hier sicherlich nicht sehr hoch, und es gibt auch nur geringe Möglichkeiten, etwaige Rechte durchzusetzen. Es gibt aber sogar das Seerecht (als Teildisziplin der Rechtswissenschaften bzw. genauer des Völkerrechts), Regelungen über den politischen Status der Antarktis und sogar das Weltraumrecht, so dass auch insoweit (wenn auch nur rudimentäre) rechtliche Regelungen bestehen.
Rechtsfreie Räume gibt es also allenfalls faktisch, nicht rechtlich. Teile der Bronx in New York City oder nach unseriösen Medienberichten auch von Duisburg-Marxloh mögen rechtsfreie Räume (gewesen) sein. Dass am erstgenannten Ort Konflikte zwischen rivalisierenden Jugendbanden so vergleichsweise harmlos abgelaufen sind, wie es in dem berühmten Musical "West Side Story" von Leonard Bernstein dargestellt wird, glauben jedoch nur unverbesserliche Sozialromantiker. Wer in China versucht, gegen Verletzungen eines in Deutschland registrierten Patents vorzugehen, wird ebenfalls an faktische Grenzen stoßen. Und der Verletzte muss schnell agieren, weil ansonsten der Journalist, der darüber berichtet hat, möglicherweise verschwunden ist und infolgedessen tragisch als Zeuge ausscheidet.